21.12.2024 | Regionalgeschäftsstelle Hannover

"Wir wollen Personalgewinnung neu denken" - Ein Springerpool für den Rettungsdienst

In der jüngsten Ausgabe des Rettungs-Magazins schildern Dienststellenleiter Tim Heinrich und Helge Vogelsang, was zu der Gründung eines Springerpools im Rettungsdienst führte, wie er funktioniert und was sie sich von ihm erhoffen.

Der Fachkräftemangel hat Sie auf die Idee gebracht, einen Springerpool zu bilden. Wie äußert sich der Fachkräftemangel bei Ihnen konkret? Müssen zum Beispiel Fahrzeuge abgemeldet werden, weil Sie die Besatzung nicht zusammenbekommen?

Tim Heinrich: Der Rettungsdienst ist und bleibt einsatzbereit. Wir haben in den vergangenen Jahren aber eine steigende Belastung unserer Mitarbeitenden feststellen müssen. Wir verzeichnen vermehrte, auch kurzfristige Personalausfälle. Dadurch entstehen bei den verbleibenden Mitarbeitenden, die zusätzliche Dienste übernehmen müssen, Überlastungs-erscheinungen. Die Auslöser für diese Situation sind vielschichtig, Krankheit und Mutterschutz zählen zu den Hauptfaktoren für nicht planbare und mitunter auch länger anhaltende Ausfälle. Gleichzeitig ist es schwierig, neue Mitarbeitende zu gewinnen. Zunehmend hohe Belastungen im Rettungsdienstalltag, darunter eine steigende Anzahl von unnötigen Bagatelleinsätzen, eine teils schwierige Klientel im städtischen Bereich oder längere Fahrt- oder Übergabezeiten zu und an den Krankenhäusern erschweren die Situation zusätzlich. Nach der Ausbildung steigt bei den Mitarbeitenden durch permanente Belastung oft die Bereitschaft zu einem Perspektivwechsel. Daraus folgend werden attraktive Übernahmeangebote, beispielsweise von Krankenhäusern oder den Berufsfeuerwehren, vermehrt angenommen. 

Dies sind unsere Gründe, Personaleinsatz und -gewinnung „neu zu denken“ und einen Springerpool einzurichten, um die Arbeitssituation unserer Mitarbeitenden in den Rettungswachen zu verbessern, ihre Zufriedenheit wieder zu steigern und sie dadurch auch langfristig an uns zu binden. Die Idee dahinter ist, mit einem flexibel einsetzbaren Team nicht planbaren Personalbedarf auszugleichen. Der Springerpool soll eine Ausgangssituation schaffen, die einem eventuellen Engpass rechtzeitig entgegenwirkt oder ihn gar nicht erst entstehen lässt. Durch ebenso verlässliche wie flexible Dienstpläne, verbunden mit einem Abbau von Überstunden, wird der Springerpool die Belastungen für die Mitarbeitenden verringern und ihre Zufriedenheit steigern. Was sich nicht vermeiden lassen wird, sind Herausforderungen wie gehäufte, krankheitsbedingte Ausfälle, beispielsweise bei einer Grippewelle. Diese treffen den Rettungsdienst mit seinen Mitarbeitenden ebenso wie alle anderen Teile der Bevölkerung, aber auch dann wird der Springerpool mit seinen Mitarbeitenden helfen können.

Sie greifen für den Pool nicht auf aktuelle Kolleginnen und Kollegen zurück, sondern stellen neue, externe Kräfte ein. Was ist das Reizvolle an dieser Aufgabe? Welche Extras können Sie im Vertrag bieten?

Helge Vogelsang: Mitarbeitende im Springerpool erhalten umfangreiche Fort- und Weiterbildungen und sammeln in den unterschiedlichen Rettungsdienstbereichen in kurzer Zeit viele, zum Teil auch neue Erfahrungen. Eine flexible und verlässliche Dienstplanung führt dazu, dass sich private Wünsche und Belange, wie beispielsweise ein Studium, gut mit einer Tätigkeit im Springerpool vereinbaren lassen. Für die Übernahme der Dienste an den unterschiedlichen Wachen, die auch bei kurzfristigeren Einsätzen in der Regel 96 Stunden vor Beginn der Abordnung bekannt gegeben werden, erhalten sie dauerhaft ein Dienstfahrzeug (aktuell: VW Golf 8 e-Hybrid) auch zur privaten Nutzung, inklusive einer Lade- und Tankkarte. Hier erfolgt eine Versteuerung nach gesetzlichen Vorgaben. Außerdem erhält jeder Pool-Mitarbeitende pro Monat eine Zulage von 450 Euro brutto pauschal. Ab der elften Schicht erhöht sich diese Zulage um weitere 45 Euro brutto pro übernommenen Dienst. In Fällen, die eine Übernachtung erfordern, organisiert die JUH eine Unterkunft.

Um wie viele Wachen und welche Region handelt es sich? Mit wieviel Zeit für den Arbeitsweg muss man rechnen?

Tim Heinrich: Aktuell sind zehn unserer Rettungswachen in sechs Landkreisen/Regionen/Städten im Raum mittleres und südliches Niedersachsen als Einsatzort vorgesehen. Dies sind die Rettungswachen in Einbeck, Garbsen, Göttingen, Hildesheim, Holzminden, Langenhagen, Rethem, Schwarmstedt, Steinhude, Wunstorf. Je nachdem, wo sich der Wohnort des Mitarbeitenden befindet, kann ein Arbeitsweg von bis zu zwei Stunden erforderlich sein. Der Arbeitsweg wird als Reisezeit vergütet, bei Bedarf bieten wir eine Übernachtungsmöglichkeit vor Ort an.

Welche Einstellungsvoraussetzungen geben Sie vor, die von den normalen Erwartungen an Notfall- und Rettungssanitäter abweichen?

Tim Heinrich: Gesucht wurden und werden Mitarbeitende in Voll- oder Teilzeit (mind. 30 Wochenstunden) mit der Qualifizierung als Notfallsanitäter & Rettungsassistent & Rettungssanitäter (m/w/d). Zusätzlich sollten die Mitarbeitenden motiviert sein, sich kontinuierlich fortzubilden und sich auf wechselnde neue Kollegen und Situationen einzulassen. Insbesondere eine hohe Flexibilität hinsichtlich des Einsatzortes ist erforderlich.

Die neuen Kolleginnen und Kollegen müssen vorab vermutlich eingearbeitet werden. Was sind da die Themen? Und wie lange dauert die Einarbeitung?

Helge Vogelsang: Für die Tätigkeit auf den unterschiedlichen Rettungswachen erhalten Mitarbeitende im Onboardingprozess eine ausführliche Einarbeitung und die erforderlichen Fortbildungen nach den jeweiligen Trägervorgaben. Hierzu gehören z. B. eine Fahreinweisung, Geräteeinweisungen und ein Fahrsicherheitstraining. Im Bereich der rettungsdienstlichen Medizin werden die so genannten SOP (Standart Operating Procedures), die mitunter sehr verschiedenen Vorgaben der ärztlichen Leitungen in den Städten und Kommunen beinhalten, vermittelt. Diese Einarbeitung dauert aktuell mehrere Wochen. In dieser Zeit sind die neuen Kolleginnen und Kollegen an so genannten Bereichstage auch auf den einzelnen Wachen und bekommen dort die spezifischen Besonderheiten wie zum Beispiel den Tagesablauf, Schichtmodelle, die örtliche Krankenhausstruktur durch die Mitarbeitenden der jeweiligen Rettungswache vermittelt.

Welche Rettungskräfte haben Sie besonders im Blick: junge Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungen sammeln möchten, oder „alte Hasen“, die eine neue Herausforderung suchen? 

Helge Vogelsang: Die Johanniter sprechen mit diesem Jobangebot alle Interessierten an. Willkommen sind sowohl junge Menschen, die in ihrer Lebenssituation noch sehr flexibel sind, als auch routinierte „alte Hasen“, die eine neue Herausforderung suchen und mit ihrer langjährigen Berufserfahrung das Team bereichern können. 

Die Kräfte aus dem Springerpool werden in verschiedenen Landkreisen tätig sein. Ist es realistisch, dass sie für alle Regionen die dort geltenden Standard Operating Procedures ausreichend verinnerlichen, um eigenverantwortlich tätig werden zu können?

Tim Heinrich: Durch den mehrwöchigen Onboardingprozess bereiten wir die Springerpool- Mitarbeitenden so optimal wie möglich vor. Bei der Zusammenstellung der Einarbeitungsinhalte wurden alle ärztlichen Leiter der Einsatzorte involviert und lokale Besonderheiten hinsichtlich der Ableitung von NUN-Algorithmen in den SOPs berücksichtigt. Die neuen Kolleginnen und Kollegen erhalten in der umfangreichen Einarbeitung alle erforderlichen Fortbildungen nach den jeweiligen Trägervorgaben und lernen darüber hinaus an den Bereichstagen die individuellen Rettungswachen und ihre Besonderheiten kennen (siehe auch Antwort zu Frage 5). Bei ihren Diensten werden sie immer in Kombination mit „ortsansässigen“ Kolleginnen und Kollegen eingesetzt. 

In welchen Fällen sollen die Angehörigen des Springerpools zum Einsatz kommen?

Helge Vogelsang: Der neue Springerpool hilft, Dienstplanlücken zu schließen, die durch akute oder absehbare Personalausfälle aufgrund von z. B. Krankheit, Mutterschutz oder Beschäftigungsverbot entstanden sind. Er dient weiterhin der Vermeidung von Mehrarbeit und trägt damit zur Entlastung des Stammpersonals auf den Rettungswachen bei.

Wie viel Vorlaufzeit ist geplant? Erfahren die Einsatzkräfte zum Beispiel erst abends, wo sie am nächsten Tag zum Frühdienst erscheinen sollen?

Helge Vogelsang: Die Mitarbeitenden des Springerpools werden in die kurz- bis mittelfristige Dienstplanung der Wachen eingebunden und geben auch im Vorfeld für sie leistbare Schichten an. Die Kollegen sind aber auch in der Lage, kurzfristig einzuspringen. Bestenfalls bekommen sie dafür 96 Stunden vorher Bescheid, in den vergangenen vier Wochen kam es aber schon vor, dass ohne lange Vorlaufzeit ein Dienst gleich am nächsten Tag übernommen werden konnte.

Wie umfangreich soll der Pool idealerweise sein?

Tim Heinrich: Der Pool umfasste beim Start zehn Vollzeitstellen. Acht Stellen konnten durch sieben Notfallsanitäter und einen Rettungssanitäter besetzt werden. Drei weitere Einstellungen stehen in den kommenden Monaten an. Unser Plan war es, bis Ende des Jahres Erfahrungen zu sammeln und dann zu entscheiden, ob wir den Springerpool ausweiten werden.

Besteht die Möglichkeit für die Pool-Mitglieder, bei sich bietender Gelegenheit fest einer Stammwache zugeordnet zu werden, also den Pool zu verlassen?

Tim Heinrich: Ja. Wenn ein Mitarbeitender des Pools Interesse hat, fest nur bei einer Rettungswache zu arbeiten, ist das ohne Probleme möglich und er kann aus dem Springerpool an die Wache wechseln

Wie verhindern Sie, dass die Pool-Kolleginnen und Kollegen als Fremdkörper auf den Wachen empfunden werden?

Helge Vogelsang: Bereits während ihrer Einarbeitung haben die Mitarbeitenden des Springerpools durch die Bereichstage die einzelnen Wachen und deren Personal kennengelernt. Wenn sie vor Ort in den Rettungswachen im Einsatz sind, werden sie komplett in das dort bestehende Team integriert. Erste Erfahrungen zeigen, dass die Poolmitarbeitenden auf den Rettungswachen als Bereicherung und Entlastung der Teams wahrgenommen werden. 

Haben die Angehörigen des Springerpools die Möglichkeit, bei der Dienstplangestaltung Wünsche zu äußern, um zum Beispiel Arbeit und Studium unter einen Hut zu bringen?

Tim Heinrich: Ja. Die Mitarbeitenden geben im Vorfeld für sie leistbare Schichten an. Sie können Wünsche äußern. So können Arbeit und z. B. ein Studium gut miteinander vereinbart werden. 

Was machen Sie, wenn es Tage gibt, an denen kein Springer oder nicht alle Springer benötigt werden?

Beide: Wir gehen davon aus, dass dies sehr selten der Fall sein wird. Wenn doch, kann diese Zeit für den Abbau von Überstunden oder für Studientage genutzt werden.

Helge Vogelsang ist Dienststellenleiter des Ortsverband Hildesheim mit der Rettungswache Hildesheim mit 55 Mitarbeitenden, fünf Primärrettungsmitteln und einem Krankentransportwagen. Tim Heinrich führt als Dienststellenleiter den Nordhannoverschen Ortsverband mit der Rettungswache Langenhagen mit 90 Mitarbeitenden und sechs Primärrettungsmitteln.

Das Interview führte Lars Schmitz-Eggen (Rettungs-Magazin, Ausgabe Januar/Februar 2025)