Prävention im Jugendverband mit dem !ACHTUNG-Konzept
„Wir wollen sichere Orte für Kinder und Jugendliche schaffen“
Prävention ist der erste Schritt, damit sich alle sicher und geborgen fühlen können. Mit !ACHTUNG hat die Johanniter-Jugend ein Konzept entwickelt, das Kinder und Jugendliche stark macht, ihre eigenen Grenzen zu kennen und zu benennen. Konstantin Schmidt ist eine von zwei !ACHTUNG-Vertrauenspersonen bei den Johannitern im Norden. Im Interview erklärt der 33-Jährige, warum der Jugendverband sich so intensiv mit der Prävention von sexuellen Übergriffen beschäftigt.
Was ist das !ACHTUNG-Konzept?
Konstantin Schmidt: „Das Konzept ist ein Stück Philosophie des Jugendverbandes: Wir wollen sichere Orte für Kinder und Jugendliche innerhalb des Verbandes schaffen. Das ist mir ein persönliches Anliegen. Ich konnte als Jugendlicher in der Johanniter-Jugend selbst so viel mitnehmen, das möchte ich nun als Erwachsener als !ACHTUNG-Vertrauensperson zurückgeben. Das Konzept ist eine Hilfestellung bei allen Themen der bewussten oder unbewussten sexuellen Grenzüberschreitung: Es hilft dabei, Probleme frühzeitig zu erkennen und anzugehen und erleichtert das strukturierte Vorgehen bei Verdachtsfällen. Man könnte sagen, !ACHTUNG ist das Konzept, das unsere Grundhaltung in eine Struktur packt.“
Wieso benötigt die Johanniter-Jugend dieses Konzept?
„Man denkt ja immer, wir sind alle gut. Sexuelle Übergriffe – die gibt es bei uns nicht, das kann uns doch nicht passieren. Und natürlich sind das absolute Ausnahmefälle. Aber auch wir sind nicht davor gefeit, dass es potenzielle Täter oder Täterinnen in unseren Reihen gibt. Alle Verbände, alle Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, müssen sich mit diesem Thema auseinandersetzen – und zwar möglichst, bevor etwas passiert. Umso wichtiger ist es, dafür zu sorgen, dass Situationen mit potenziellem Risiko früh erkannt werden oder gar nicht erst entstehen und dass alle Mitglieder im Jugendverband für das Thema sensibilisiert sind. Mit dem !ACHTUNG-Konzept zur Prävention wollen wir mehr als nur ein Zeichen setzten: Wir wollen aktiv dazu beitragen, potenzielle Täter oder Täterinnen aus unseren Reihen fernzuhalten. Erste Prämisse ist immer der Schutz von Kindern und Jugendlichen.“
Was ist eure Aufgabe als !ACHTUNG-Vertrauenspersonen?
„Unsere Aufgabe besteht zum einen aus der Prävention, zum anderen aus der Intervention. In erster Linie wollen wir verhindern, dass überhaupt etwas passiert. Prävention heißt zum Beispiel, dass wir auf den Freizeitaktivitäten und in den Jugendgruppen für das Thema sensibilisieren, dass wir Kinder und Jugendliche stark machen, auch nein zu sagen, wenn sie etwas nicht möchten. Dazu müssen wir sie in die Lage versetzen, Worte zu finden für das, was sie nicht mögen. Das ist manchmal selbst für Erwachsene schwierig – für junge Menschen erst recht. Wir unterstützen die Jugendgruppenleitungen, begleiten sie und geben ihnen das passende Handwerkszeug für ihre Gruppenstunden. Wir supervisieren, wenn Bedarf ist, wir werben für das Konzept und unterstützen bei der Umsetzung.
Sollte es doch zu problematischen Situationen kommen, intervenieren wir: Wir greifen ein bei grenzüberschreitendem Verhalten, leiten Maßnahmen ein, um Probleme zu beheben und stehen als Vertrauenspersonen für die Jugendgruppenleitungen zur Verfügung und natürlich auch für die Jugendlichen, die grenzverletzendes Verhalten erlebt haben.
Zu unseren Aufgaben gehört auch die Risikoanalyse als Teil der Veranstaltungsvorbereitung, wenn die Johanniter-Jugend beteiligt ist: Haben Betreuungspersonen einen erweitertes Führungszeugnis? Wie sind die Kinder und Jugendlichen untergebracht, wenn sie übernachten? Gibt es zum Beispiel Geschlechtertrennung? Was benötigen Kinder und Jugendliche, damit sie sich sicher und wohlfühlen? Wie können sie ihre Bedürfnisse äußern? Wer ist Vertrauensperson vor Ort und wie sind die Personen erreichbar? Gibt es klare Verantwortlichkeiten? Gibt es feste und bekannte Bezugspersonen? Da wir auch im Jugendverband aktiv im Bereich Erste Hilfe sind, ist ein ganz konkretes Thema das der realistischen Fallbeispiele: Werden hier körperliche Grenzen gewahrt? Das ist ein besonders sensibler Bereich, da sich die Jugendlichen gegenseitig berühren müssen, wenn sie beispielsweise fiktive Verletzungen versorgen.
Wie wurdet ihr auf eure Aufgabe vorbereitet?
„Meine Kollegin Nicole Middelhuß und ich sind, wie alle anderen !ACHTUNG-Vertrauenspersonen, vorgeschlagen und vom jeweiligen Landesvorstand benannt worden. Durch diese Legitimation sind wir unabhängig, und es kann zu keinen Interessenkonflikten innerhalb des Jugendverbandes kommen. Auf Bundesebene sind wir gut vernetzt und kennen die fachlichen Strukturen der Johanniter-Jugend. Für alle !ACHTUNG-Vertrauenspersonen gibt es entsprechende Fort- und Weiterbildungen und Schulungen zum !ACHTUNG-Konzept und weiteren Schutzkonzepten, außerdem regelmäßige Supervisionen. Ich selbst habe auch beruflichen Kontakt zu dem Thema: Ich bin ausgebildeter Gesundheits- und Krankenpfleger in einer psychiatrischen Klinik und habe lange in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet. Mittlerweile arbeite ich vom Schreibtisch aus. Und meine ehrenamtliche Kollegin Nicole war übrigens maßgeblich an der Entwicklung des Konzeptes beteiligt – das Konzept ist ihr absolutes Herzensprojekt.“
Warum habt ihr euch dazu entschieden, dieses Ehrenamt zu übernehmen?
„Ich war Jugendgruppenleiter, als das Konzept ausgerollt wurde. Im Landespfingstzeltlager hatte ich Verantwortung für meine eigene Jugendgruppe. Als das Konzept vorgestellt wurde, hatte ich ganz viele Aha-Effekte: Ich habe mich selbst hinterfragt, ob ich eventuell unbewusst Grenzen überschritten habe. Das hat mich stark beschäftigt. Später war ich in der Landesjugendleitung und der Bundesjugendleitung aktiv. Meine Tätigkeit als Bundesjugendleiter habe ich zugunsten meiner Familie aufgegeben, wollte aber weiterhin gern einen Beitrag für die Johanniter-Jugend leisten – mittlerweile habe ich selbst zwei Kinder. Als dann im Landesverband Nord eine Vertrauensperson gesucht wurde, dachte ich: Das passt gut zu meinen eigenen beruflichen und persönlichen Erfahrungen im Verband – da möchte ich mich einbringen. Und mit Nicole habe ich eine sehr engagierte und erfahrene Person an meiner Seite, wir unterstützen uns sehr stark gegenseitig. Das ist wichtig in dieser Position.“
Wie erfahren die Johanniter-Jugendlichen in der Regel davon, dass es euch gibt?
„Um eine Vertrauensperson zu sein, reicht es nicht, dass unsere Telefonnummer im Netz steht. Das Angebot muss niedrigschwellig sein, sonst wird es nicht angenommen. Wichtig ist die innerverbandliche Präsenz: Wir sind auf den Veranstaltungen der Johanniter-Jugend präsent, zum Beispiel beim Landespfingstzeltlager oder beim Tag der Johanniter, damit die Jugendlichen auch ein Gesicht zum Namen haben. In der Jugendgruppenleitungsgrundausbildung, die alle Jugendgruppeleitungen durchlaufen müssen, gibt es eine eigene Einheit zum !ACHTUNGs-Konzept, ebenso wie einen Kaminabend, wo den Vertrauenspersonen Fragen gestellt werden können, sodass alle Leitungskräfte das Thema kennen und dann in ihre Gruppen mitnehmen können. Wir schaffen es nicht, alle über 1.000 Johanniter-Jugendlichen im Norden persönlich zu erreichen, aber über die Jugendgruppenleitungen besteht der Kontakt.“
Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch oder sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen ausgewirkt? Gab es ein erhöhtes Risiko?
„Zunächst: !ACHTUNG bezieht sich nur auf die innerverbandliche Arbeit. Wir schützen Johanniter-Jugendliche im Kontext der Arbeit im Jugendverband. Was ich beobachte, auch im beruflichen Kontext: Ja, es gibt ein deutlich erhöhtes Risiko, gerade bei Familien, die ohnehin risikobehaftet sind. Das ist für das !ACHTUNG-Konzept aber nicht unser Handlungsfeld, da wir zu diesen Jugendlichen nicht in Kontakt stehen. Dennoch hat sich die Pandemie auf andere Weise negativ auf unsere Arbeit ausgewirkt: Es gab keine Veranstaltungen, keine Jugendgruppentreffen: Der Schutzraum für die Kinder und Jugendlichen hat sich aufgelöst. Wir konnten den Kindern keine Angebote mehr machen, es gab kaum Möglichkeiten, sie anzusprechen. Als es mit den Präsenztreffen wieder losging, waren unsere Gesichter nicht mehr so präsent. Da gibt es jetzt für uns viel Nachholbedarf. Daraus müssen wir auch für kommende Jahre lernen, wie wir mit so einer Situation umgehen.“
Was waren die Herausforderungen bei der Identifikation von Fällen während der Pandemie?
„Wie gerade schon erwähnt: Die Treffen fanden nicht statt oder waren sehr regional begrenzt, Großveranstaltungen gab es gar keine, sodass wir als Vertrauenspersonen kaum präsent waren. Diese Strukturen müssen wir nun mühsam wiederaufbauen.“
Welche Maßnahmen ergriffen, um trotz der Pandemie den Schutz und die Unterstützung der betroffenen Kinder und Jugendlichen aufrechtzuerhalten?
„Wir mussten uns ganz viel damit auseinandersetzten, wie wir Onlineangebote strukturieren können und welche Hürden es gibt. Vor der Pandemie hatten wir uns dazu kaum Gedanken gemacht, weil die Treffen immer in Präsenz stattfanden. Es waren ganz neue Fragestellungen relevant: Welche Risiken bergen Onlineformate? Was passiert in dem Bereich, der von der Kamera nicht abgebildet wird? Werden auch Peinlichkeiten aufgezeichnet bei Videokonferenzen? Macht jemand davon eventuell einen Screenshot und teilt ihn mit anderen? Was ist mit sensiblen Themen, die Teilnehmende triggern, die sich dann eventuell offline schalten oder die Kamera ausmachen? Offline kann ich sofort eingreifen, online habe ich kaum eine Chance. Nur weil ich in den Onlineformaten keine Grenzverletzung wahrnehme, heißt es nicht, dass es keine gibt. Das war sehr schwierig. Prävention bedeutet, dass ich mir der Risiken im Vorfeld bewusstwerden muss. Das mussten wir auch erst lernen.“
Welche Rolle spielten digitale Medien und soziale Netzwerke in Bezug auf das Risiko von sexuellem Missbrauch bzw. sexualisierter Gewalt während der Lockdowns?
„Das Thema hatten wir schon vor dem Lockdown auf dem Schirm. Leider spielen Cybergrooming und andere Kontaktaufnahmeversuche seit geraumer Zeit eine zunehmende Rolle, in der Pandemie ist das Thema aber noch relevanter geworden. Da die Präsenztreffen ausfielen, haben die Jugendlichen ihr Kontaktbedürfnis online ausgelebt. Das macht es auch für uns notwendig, sich stärker damit auseinanderzusetzen. Allerdings sind die Grenzen fließend, wo unser Konzept der Prävention endet, auch, weil es so viele verschiedene Formen von Gewalt gibt. Es ist deshalb sehr wichtig, dass wir uns hier weiterqualifizieren. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass wir das nur ehrenamtlich machen. Umso wichtiger ist die Vernetzung mit Menschen, die sich professionell mit ganz speziellen Fällen auskennen, zum Beispiel. Beratungsstellen, an die man die Betroffenen auch weiterleiten kann, wenn die eigenen Kompetenzen überschritten werden.“
Merkt ihr nach der Pandemie Veränderungen im Umgang bei den Jugendlichen?
„Aus meinem Arbeitskontext in der Kinder- und Jugendpsychiatrie beobachte ich einen deutlichen Zuwachs sozialphobischer Klientinnen und Klienten. Das sind zum Beispiel Jugendliche, die aus psychischen Gründen nicht mehr in die Schule gehen können. Auch Fälle von Kindern, die schon vor längerer Zeit Hilfe gebraucht und diese während der Pandemie nicht bekommen haben, weil die Notwendigkeit nicht erkannt worden ist, rollen jetzt auf uns zu.
Im Jugendverband müssen wir uns viel Mühe geben, den Zusammenhalt, den wir vorher hatten, wiederaufzubauen. Das Netzwerk war lange stillgelegt und muss nun reaktiviert werden. Eine der wichtigsten Herausforderungen wird es sein, das Vertrauen der Jugendlichen wiederzugewinnen: Sie müssen uns vertrauen, sonst offenbaren sie sich nicht. Möglicherweise haben sich die Bedürfnisse auch gewandelt. Was sich aber nicht geändert hat: Wir hinterfragen die Bedürfnisse nicht, wir nehmen sie als gegeben hin und versuchen, gemeinsam eine Lösung zu finden.“
Vielen Dank für das Gespräch!