Eltern-Umfrage zum Jahresthema
„Kinder brauchen jemanden, der sie sieht und ihnen zuhört“
Niemand weiß besser, was Kindern in der Zeit der Pandemie verloren gegangen ist, als ihre Eltern. Um ein Bild davon zu bekommen, haben die Johanniter im Norden eine Umfrage unter Eltern mit minderjährigen Kindern gemacht. 1.000 Personen zwischen 22 und 65 Jahren haben sich an der Online-Befragung des Anbieters Appinio im Juni 2023 beteiligt und einen Einblick in die Gefühlslage ihres Nachwuchses gegeben.
„Wir wollten von den Befragten wissen, ob sie nach der Pandemie eine Veränderung bei ihren Kindern wahrnehmen“, sagt Helena Hasenkamp, Bereichsleiterin Kinder, Jugend und Freiwilligendienste für den Landesverband Nord. Das Ergebnis ist erschreckend: Rund 47 Prozent der Befragten bejahen dies. Am häufigsten stellen die Eltern fest, dass sich ihre Kinder zurückgezogen haben (15,3 Prozent). Außerdem beobachten sie Schwierigkeiten, den Kita- oder Schulausfall aufzuholen (14,6 Prozent) oder in Gruppen zu interagieren (12,7 Prozent), einen erhöhten Bedarf an psychischer Unterstützung (10,9 Prozent) oder allgemeine Entwicklungsverzögerungen (10,1 Prozent). 5,8 Prozent bestätigen sogar eine ärztlich diagnostizierte psychische Auffälligkeit. Mehrfachnennungen waren möglich. „Natürlich sind das subjektive Eindrücke, die sich nicht einzeln überprüfen lassen – sie decken sich aber mit den Beobachtungen unserer Fachkräfte in den Johanniter-Kitas“, erläutert Helena Hasenkamp. „Nicht nur für unsere Kitas, auch für Schulen und vor allem die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe steht in den kommenden Jahren viel Arbeit an, um die verloren gegangenen oder nicht entwickelten Kompetenzen zu vermitteln. Besonders Kinder aus finanziell benachteiligten Haushalten müssen stärker gefördert werden, um nicht abgehängt zu werden. Das sollten die Kinder uns als Gesellschaft wert sein!“ Das sehen auch die befragten Eltern so: 78,4 Prozent finden es wichtig oder sogar sehr wichtig, die Bedürfnisse von Kindern nun stärker in den Fokus zu rücken.
Auf die Frage „Was brauchen Kinder und Jugendliche nach der Pandemie am meisten?“ werden die Befragten in den Freitext-Antworten sehr konkret: Am häufigsten nennen sie die Bedeutung sozialer Kontakte und die individuelle Förderung von Kindern. „Aus den ausführlichen Antworten der Eltern können wir viele Rückschlüsse für unsere tägliche Arbeit ziehen und sehen uns in unseren pädagogischen Konzepten unserer Kindertageseinrichtungen bestätigt, zum Beispiel, was die gezielte Sprachförderung oder die Stärkung des Selbstbewusstseins angeht. Wir machen Kinder stark für die Zukunft“, so Hasenkamp.
Thematisch lassen sich die 1.000 anonymen Antworten in die fünf Kategorien Bildung und Förderung, soziale Kontakte und Gemeinschaft, Unterstützung und Betreuung, Bewegung und Freizeitangebote sowie Bedürfnisse von Kindern in der Gesellschaft aufteilen. Mehrere Befragte beklagen zum Beispiel, dass auch nach der Pandemie aufgrund des Personalmangels an Schulen häufig der Unterricht ausfällt. „Genügend Erzieher, Lehrer, Schul- und Kitasozialarbeiter fände ich wichtig. Personalmangel baden die Kinder ständig aus. Schön wären gezielte Nachhilfeprogramme, soziale Gruppenprojekte, organisierte Jugendtreffs und Verständnis seitens der Politiker, dass Corona Kinder und Jugendliche doch sehr nachhaltig betroffen hat“, schreibt ein Elternteil. Dass Kinder generell häufig hintenanstehen, bemerken andere. „Kinder brauchen mehr Aufmerksamkeit. Nicht nur durch die Pandemie, sondern auch im Allgemeinen werden die Bedürfnisse von Kindern in Deutschland nicht gewürdigt. Sie sind gefühlt am Ende der Kette unseres politischen Systems. Man sollte Kinder in Deutschland viel mehr in den Vordergrund rücken und das Land endlich kinderfreundlicher gestalten“, findet ein Elternteil. Mehr Wertschätzung fordert eine weitere Person: „Kinder brauchen Unterstützung, sie müssen ernst genommen werden, sie brauchen jemanden, der sie sieht und ihnen zuhört.“
Doch damit Kinder gesehen werden können, dürfen auch ihre Eltern nicht mit der Erziehung alleingelassen werden. „Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein wichtiger Faktor, um Eltern zu entlasten. Hier hat sich in den vergangenen Jahren bereits viel getan, Stichwort Mobiles Arbeiten von Zuhause und flexiblere Arbeitszeiten, dennoch gibt es Luft nach oben. Da sind Arbeitgeber ebenso wie die Politik gefragt“, sagt Bereichsleiterin Helena Hasenkamp. Sie hat sich mit den Meinungen der Eltern intensiv beschäftigt. „Ein Kommentar ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Jemand schrieb: ‚Jeder denkt nur an sich. Wenn Kinder nur das fünfte Rad am Wagen sind, fällt das der Gesellschaft irgendwann auf die Füße‘. Das bringt es für mich auf den Punkt: Wir brauchen dringend eine kinder- und familienfreundlichere Gesellschaft. Mit unseren Angeboten für Kinder und Jugendliche und für ihre Eltern schaffen wir wichtige Anlaufpunkte, aber hier sind alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gefordert“, sagt die Johanniterin. „Am wichtigsten ist doch: Kinder müssen jetzt nach der Pandemiezeit endlich wieder Kind sein dürfen. Darauf wollen wir mit unserem Jahresthema aufmerksam machen und unseren Teil dazu beitragen.“