Auswirkungen der Pandemie auf die Freiwilligendienste
"Das Gemeinschaftsgefühl und das soziale Gefüge haben stark gelitten"
Auf dem Weg zum Erwachsenwerden hat die Pandemie Jugendliche in einer besonders sensiblen Phase ihres Lebens ausgebremst. Auch auf den Bereich der Freiwilligendienste hat das Auswirkungen. Merle Matern, Referentin für die FSJ-Seminare bei den Johannitern im Landesverband Nord, berichtet im Interview von ihren Erfahrungen.
Was ist deine Aufgabe im Bereich Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ)?
„Ich bin Referentin für die pädagogischen Begleitseminare. Bei einem zwölfmonatigen Dienst müssen Freiwillige 25 Seminartage für die Anerkennung des Freiwilligen Sozialen Jahres absolvieren. 15 davon decke ich ab mit den Begleitseminaren, diese sind aufgeteilt in Einführungs-, Zwischen- & Abschlussseminar über jeweils fünf Tage von Montag bis Freitag. Ich bereite die Seminare auch vor und nach und beantworte Fragen von Freiwilligen.“
Was lernen die Freiwilligendienstleistenden in den FSJ-Seminaren?
„Es geht hauptsächlich um den Austausch mit anderen Freiwilligen und um die Reflexion des Freiwilligendienstes. Die Teilnehmenden berichten, wie es ihnen in ihren jeweiligen Einsatzstellen geht, welche Entwicklungen sie durchmachen oder welches Wissen sie sich angeeignet haben. Außerdem klären wir grundlegende Fragen zu den Rechten und Pflichten der Freiwilligendienstleistenden und entwickeln Problemlösungsstrategien für eventuell auftretende Schwierigkeiten am Arbeitsort. Wir befassen uns mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen – im Grunde mit allem, was die Freiwilligen bewegt und interessiert. Das kann die erste eigene Wohnung sein, Erfahrungen mit Diskriminierungen oder Zukunftsängste. Aktuell beschäftigen die Freiwilligen sich vor allem mit den Themen Ukraine-Krieg, dem Erdbeben in der Türkei und natürlich mit der Klimakrise, da sie davon in ihrem Leben besonders betroffen sein werden. Bei diesen kritischen Themen ist mir Empathie ganz wichtig: Ich nehme als Kursleiterin die Sorgen und Ängste sehr ernst und höre zu. Es stehen aber auch ganz praktische Dinge auf dem Programm: Berufsorientierung, Zeitmanagement, Präsentationstechniken oder Teambuilding zum Beispiel. Die jungen Menschen müssen erst ihre eigene Rolle im Team finden. Das ist nicht so leicht, denn das konnten sie in der Pandemiezeit nur bedingt erlernen.“
Wie haben sich die FSJ-Seminare während der Pandemie gestaltet?
„Während der vergangenen Jahre fanden die Seminare ausschließlich online statt. Das war eine Herausforderung für alle Beteiligten: Der Austausch untereinander war stark erschwert, weil in einer Videokonferenz nur eine Person zu einer Zeit sprechen kann und die wichtigen Kennenlernphasen am Abend oder beim Mittagessen ausgefallen sind. Zwischenmenschliche Gespräche entfielen fast komplett. Außerdem gab es oft technische Probleme, die Klassiker: kein WLAN, die Präsentation lässt sich nicht abspielen, die Kamera läuft nicht oder der Ton ist abgehackt. Klar, dass die Hemmschwelle, sich aus dem Seminar zu entziehen, da viel niedriger ist, als wenn man vor Ort im Kursraum sitzt. Auch lässt die Konzentration am PC schneller nach. Natürlich sind wir sehr froh, dass wir die Seminare überhaupt abhalten konnten. Leider waren sie jedoch sehr verschult: Eine Person präsentiert, alle anderen hören zu. Aber das Seminar lebt vom Miteinander, vom Austausch und von den gruppendynamischen Prozessen. Und von der Zeit außerhalb des Kursraumes.“
Nun gibt es wieder Seminare in Präsenz. Stellst du eine Veränderung fest?
„Ja, allerdings. Unsere Seminare finden in Rendsburg statt. Die Teilnehmenden reisen aus dem ganzen Landesverband an und übernachten dort in der Einrichtung. Es mag für manche Menschen seltsam klingen, aber für viele der Freiwilligen ist es nach den Pandemiejahren eine große Herausforderung, gemeinsam mit einer Gruppe an einem fremden Ort zu übernachten, zu essen und zu leben. Das ist für sie eine neue und unbekannte Situation, mit der nicht alle gut klarkommen. Auch das soziale Interagieren in der Seminargruppe oder im geteilten Zimmer ist für viele ungewohnt. Ich bekomme vermehrt Anfragen vorab nach Einzelzimmern. Auch fehlen Motivation und Eigenverantwortung: Sie sind es so gewohnt, dass eine Person vorn steht und das Entertainment übernimmt, das erleben sie auf YouTube, auf TikTok und oft auch in der Schule. Dabei ist jede einzelne Person in der Gruppe für die Gestaltung der gemeinsamen Woche mitverantwortlich – das Seminar wird nur dann ein Erfolg, wenn alle mitziehen. Das ist jeweils die Aufgabe für den ersten Kurstag, die Entertainmenterwartung zu durchbrechen und alle zum Mitmachen zu motivieren. Ich erlebe aber auch, dass viele der Teilnehmenden Ängste haben und sich nur schwer auf andere Menschen einlassen können. Sie wissen zum Teil einfach nicht, wie sie sich nach dem Seminar mit den für sie Fremden beschäftigen sollen und ziehen sich mit ihrem Smartphone aufs Zimmer zurück – lieber Serien streamen, als mit den anderen zu interagieren. Die Mediennutzung unter den jungen Erwachsenen ist stark gestiegen.“
Was könnte der Auslöser für die Veränderung sein?
„Das pauschal zu sagen, ist sehr schwierig. Die Freiwilligendienstleistenden haben alle einen anderen Hintergrund, angefangen bei der Familie, bei der Schulbildung, über Hobbies, Arbeitsbereiche bis hin zu den individuellen Zielen für das Freiwillige Soziale Jahr. Im Seminar treffen Personen, die die Schule vorzeitig verlassen haben, auf Leute, die die Zeit bis zum Medizinstudium überbrücken. Während der dreijährigen Corona-Pandemie waren die Teilnehmenden durchschnittlich zwischen 14 und 19 Jahre alt. Vor der Pandemie waren sie also noch Jugendliche, jetzt sind sie erwachsen. Dabei entwickeln sich in dieser wichtigen Phase Routinen und Glaubenssätze fürs ganze Leben.
In der Pandemiezeit haben sie hauptsächlich negative Erfahrungen gemacht: Das Lernen im Homeschooling und in der Phase danach fiel ihnen schwerer. Prägende Erlebnisse, die typisch für diese Altersphase sind, fielen aus – zum Beispiel die Abschlussfeier, die Abschlussfahrt, überhaupt jede Form von größerem Event wie die Feier zum 18. Geburtstag. Ich habe Teilnehmende im Seminar gefragt, wie sie diese Phase erlebt haben. Viele berichteten mir, dass ihr Mindset im Laufe der Zeit zunehmend negativer wurde, je länger die Isolation dauerte. Ihr Selbstbewusstsein sei gesunken, sie hätten weniger persönlich mit anderen kommuniziert, und wenn überhaupt, dann eher über soziale Medien. Viele, die vor der Pandemie aktiv im Sport- oder Jugendverein waren, sind ausgetreten. Kontakte gingen zum Teil ganz verloren. Bei manchen hat die Pandemie tatsächlich zum vorzeitigen Schulabbruch geführt – mit den entsprechenden Folgen für ihre beruflichen Perspektiven. Ein ganz wichtiger Punkt, der oft nicht gesehen wird: Für die Jugendlichen war in der Pandemiezeit auch Dating nicht möglich. Manchen fehlen zum Teil ganz grundlegende Erfahrungen, wie die erste Liebe oder wie spreche ich überhaupt jemanden an, den ich mag. Oder: Wie gehe ich damit um, wenn die Person mich ablehnt? Ich glaube, dass das große Auswirkungen hat, wenn man diese Erfahrungen erst mehrere Jahre später machen kann.
Die Freiwilligen haben aber auch positive Erfahrungen aus der Pandemiezeit mitgenommen, wie sie mir berichteten. Zum Beispiel, dass sie nicht so oft überall hinfahren mussten, dass sie viel Zeit alleine verbringen konnten, und dass sie nun besser mit dem Alleinsein klarkommen. Gerade diese Aussagen finde ich bedrückend und alarmierend: Wenn Jugendliche es als positiv erleben, viel Zeit alleine zu verbringen, widerspricht das allem, was junge Menschen normalerweise tun. Meiner Meinung nach bestätigt das, was zahlreiche aktuelle Studien – zum Beispiel die JuCo III oder die Sinusstudie „Jugend in Deutschland“ - bereits aufgezeigt haben: Dass die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen gelitten hat und dass die Grenze zwischen allein und einsam sein manchmal fließend ist. Das Gemeinschaftsgefühl und das soziale Gefüge haben stark gelitten. Diese Generation wächst neben der Pandemieerfahrung mit zahlreichen weiteren belastenden Weltereignissen und Herausforderungen auf, die sie nicht oder nur bedingt selbst beeinflussen können, die sie aber täglich direkt oder indirekt betreffen: Krieg, Inflation, Klimakrise, Generationskonflikte, Verschwörungstheorien, Einflüsse von Algorithmen und Auswirkungen künstlicher Intelligenzen. Die Zukunftsangst ist sehr groß.“
Wie gehst du als Kursleiterin damit um?
„Zu allererst nehme ich diese Verantwortung an: Ich höre zu, beschäftige mich mit den Themen, die die Freiwilligen interessieren und gehe auf ihre Probleme ein. Allein das hilft oft schon. Mein Ziel ist es, eine angenehme Atmosphäre im Seminar zu schaffen und durch die gemeinsame Zeit und das Miteinander das Sozialgefühl und das Selbstbewusstsein der Freiwilligen wieder zu stärken. Manchmal ist meine Rolle die der Vermittlerin, manchmal gebe ich Hilfe zur Selbsthilfe. Das Seminar gibt ihnen Struktur und die Routine, mit Dingen umzugehen, die für ihr Alter eigentlich selbstverständlich sein sollten, die sie aber durch die Pandemiezeit nicht erleben konnten. Und um etwas Positives zu berichten: Ich erlebe bei den Freiwilligen enorme Unterschiede zwischen dem Einführungsseminar und dem Abschlussseminar. Sie sind in dieser Zeit wieder etwas sicherer und erwachsener geworden. Dies ist natürlich den einzelnen Dienststellen zu verdanken, die die Freiwilligen das Jahr über in ihrer beruflichen und persönlichen Entwicklung begleiten und anleiten.
Manche haben dieses Jahr gebraucht zum Wachsen. Natürlich können wir nicht alles wettmachen, aber ich denke, dass das Freiwillige Soziale Jahr in Kombination mit der pädagogischen Begleitung den Jugendlichen eine gute Perspektive aufzeigt.“
Was bedeuten die Pandemieerfahrungen möglicherweise für die Zukunft und die Jobperspektive der jungen Menschen?
„Wir müssen die Belange und Probleme der Generation Z ernst nehmen und nicht einfach abtun. Als Arbeitgeber müssen wir anerkennen, dass die junge Generation mit anderen Bedürfnissen, Wünschen, aber auch Erfahrungen in den Arbeitsmarkt eintritt, als die, die vorherige Generationen mitgebracht haben. Als Gesellschaft müssen wir versuchen, diese Probleme abzumildern und Halt zu geben, soweit es eben geht. Ihnen fehlt ein Stück Jugend, das ihnen niemand ersetzen kann. Verständnis für diese Situation ist das mindeste, was die jungen Menschen erwarten können. Vielleicht braucht es auch mehr Begleitung auf dem Weg in den Job, auf alle Fälle aber Empathie und ein offenes Ohr. Insbesondere müssen Kinder und Jugendliche aus sozialbenachteiligten Familien gefördert werden, da diese am meisten durch Corona gelitten haben.“
Mehr Informationen zum Freiwilligen Sozialen Jahr bei uns im Norden gibt es hier.