"Jeder Einsatz ist gleichzeitig eine Übung für den nächsten Einsatz"

Im Interview erklärt Nicolas Tobaben, Bereichsleiter Bildung, Integration und Katastrophenschutz, warum die Vorbereitung auf unterschiedliche Szenarien so wichtig ist, welche Rolle der Katastrophenschutz im Alltag der Menschen spielt und warum es im Ernstfall auf jede einzelne Person ankommt.
Erklär es mir, als wäre ich fünf: Was genau ist Bevölkerungsschutz und was ist Katastrophenschutz? Wo liegen die Unterschiede?
Nicolas Tobaben (NT): "Darin habe ich Übung. Meiner Tochter würde ich es so erklären: Deutschland hat zwei besondere Helfer-Teams, die sich um die Menschen kümmern. Der Bevölkerungsschutz passt auf ganz Deutschland auf. Er sorgt dafür, dass alle wissen, was zu tun ist, wenn mal etwas Schlimmes passiert – also sozusagen ein großer Plan, der uns alle schützt. Der Katastrophenschutz ist der Helfer, der direkt in deiner Nähe ist, etwa in deiner Stadt oder deinem Dorf. Wenn etwas passiert, kommt dieser Helfer sofort und hilft den Menschen vor Ort, sei es bei einem Brand, einem Unfall oder einer anderen Notlage. Oder für die Erwachsenen: Bevölkerungsschutz umfasst alle Maßnahmen, die Deutschland – über alle Bundesländer hinweg – ergreift, um die Bevölkerung im Vorfeld, während und nach einer Krisensituation zu schützen. Dazu gehören unter anderem die Bereitstellung von Informationen, die Unterstützung im Notfall durch Hilfsmittel und Einsatzkräfte sowie die Vorbereitung auf Szenarien wie Naturkatastrophen und im Zivilschutz schlimmstenfalls auf einen Kriegsfall. Katastrophenschutz hingegen bezieht sich auf die konkreten Einsatzmaßnahmen auf kommunaler Ebene. Hier bereiten Gemeinden, Städte oder Kreise lokale Einsätze vor – beispielsweise den Einsatz von speziell ausgestatteten Fahrzeugen, die Bereitstellung von Feldbetten und die unmittelbare Hilfeleistung vor Ort. Man könnte es also so zusammenfassen: Der Bevölkerungsschutz ist das umfassende, überregionale System, während der Katastrophenschutz die unmittelbare, lokale Reaktion auf Krisensituationen darstellt."
Was hat das mit mir zu tun? Welche Rolle spielt der Bevölkerungsschutz im Alltag der Menschen, und warum ist er so wichtig?
NT: "Im Normalfall fällt der Bevölkerungs- oder Katastrophenschutz kaum auf, weil er vor allem in der Vorbereitung auf außergewöhnliche Situationen tätig ist. Doch wenn eine Krise eintritt, beispielsweise bei einem Unfall mit sehr vielen Verletzten , extremen Wetterereignissen wie Blitzeis, Stürmen oder Hitzewellen, ist er sofort zur Stelle: Der Rettungsdienst stößt in solchen Fällen schnell an seine Grenzen, wenn viele Personen gleichzeitig Hilfe benötigen. Dann werden Elemente des Katastrophenschutzes mobilisiert, zum Beispiel zusätzliche, speziell ausgerüstete Fahrzeuge und ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. In einer Großstadt wie Berlin kommt das statistisch gesehen zwei bis drei Mal pro Tag vor, weil die Einsatzzahlen im Rettungsdienst so hoch sind! Wenn alle Einsatzmittel im Einsatz sind, herrscht der "Ausnahmezustand Rettungsdienst" und die Rückfallebene des Katastrophenschutzes greift zuverlässig. Für die verletzte Person spielt das keine Rolle - ihr wird dabei ja genauso professionell geholfen.
Im Alltag arbeiten Behörden und das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) daran, potenzielle Schadensszenarien zu analysieren, statistische Wahrscheinlichkeiten für das Eintreffen zu berechnen und der Bevölkerung entsprechende Handlungsempfehlungen zu geben. Diese Informationen – wie beispielsweise Tipps zum Verhalten bei Hitzewellen, Empfehlungen zum Trinken bei Hitze oder Schutzmaßnahmen für jegliche Szenarien – sind essenziell, damit sich jeder im Ernstfall auch selbst schützen kann. So wird das System zur Hilfe zur Selbsthilfe und stellt sicher, dass nicht allein auf staatliche Unterstützung vertraut werden muss. Ein klassisches Beispiel sind die überfluteten Keller nach einem Starkregen: Die Feuerwehr kann nicht überall zeitgleich helfen. Da ist es gut, wenn Menschen sich vorbereitet haben und selbst eine Pumpe auf Lager haben."
Welche Aufgaben haben die Johanniter im Katastrophenschutz?
NT: "Wir Johanniter unterstützen den regulären Rettungsdienst wie in meinem Beispiel vom "Ausnahmezustand Rettungsdienst". Neben der Notfallrettung übernehmen wir vor allem Aufgaben wie den Betreuungsdienst, die Einrichtung und Erhaltung von Notunterkünften – sei es kurzfristig nach Bombenräumungen oder bei länger andauernden Ereignissen wie Hochwasser, die medizinische Versorgung der Menschen und auch die Versorgung mit Mahlzeiten über unsere Feldküchen. Zur Betreuung gehört auch, dass wir besonders auf die Bedürfnisse von Kindern achten und auf die psychosoziale Notfallversorgung der Menschen in unserer Obhut: Wir kümmern uns um ihre Sorgen, hören zu. Das Thema Krisenintervention spielt beispielsweise auch in Fällen von Amoklagen eine große Rolle. Darüber hinaus stellen wir logistische Ressourcen wie Material, Wasser oder Strom bereit und unterstützen die Suche nach vermissten Personen, zum Beispiel mit unseren Drohnenstaffeln in Mecklenburg-Vorpommer. Je nach Lage agieren wir sowohl eigenständig als auch in Kooperation mit anderen Organisationen, um eine umfassende Krisenbewältigung im Auftrag der Kommune zu gewährleisten."
Wie arbeiten die Johanniter mit anderen Organisationen und Behörden zusammen, um im Katastrophenfall effektiv zu reagieren?
NT: "Die Zusammenarbeit erfolgt auf mehreren Ebenen. Lokale Behörden, also die untere Katastrophenschutzbehörde auf Kreisebene oder in einer Stadt, beauftragen und alarmieren die Johanniter und andere Hilfsorganisationen im Rahmen des Katastrophenschutzes, wenn ein Katastrophenfall ausgerufen wird. Es gibt im Wesentlichen drei Stränge, die eng kooperieren: die Hilfsorganisationen, die Feuerwehren und das Technische Hilfswerk (THW). Durch regelmäßig abgestimmte Notfallpläne und gemeinsame Übungen – sowohl theoretisch als auch praktisch – wird sichergestellt, dass alle Beteiligten im Ernstfall ihre jeweiligen Spezialgebiete einbringen und Hand in Hand zusammenarbeiten. Auch die Ausbildungen innerhalb der drei Stränge sind aufeinander abgestimmt."
Auf welche Arten von Katastrophenszenarien bereiten sich unsere Einheiten vor? Wie bereiten sie sich vor?
NT: "Unsere Einheiten bereiten sich auf ein breites Spektrum an Katastrophenszenarien vor. Dazu zählen unter anderem industrielle Unfälle und Großschadenslagen wie Verpuffungen, Explosionen oder Großbrände, bei denen Feuerwehr und Rettungsdienst oft durch katastrophenschutzspezifische Maßnahmen unterstützt werden müssen. Auch Szenarien eines Massenanfalls von Verletzten (MANV) durch Verkehrsunfälle wie einer Massenkarambolage auf der Autobahn oder gar Amoklagen werden trainiert. Zudem rückt der Umgang mit Naturereignissen wie Hochwasser oder Starkregen in den Fokus. Um für all diese Fälle gerüstet zu sein, nehmen die Einheiten regelmäßig an praxisnahen und theoretischen Übungen sowie an groß angelegten Katastrophenschutzübungen teil – häufig organisiert von Gebietskörperschaften oder staatlichen Stellen. Auch die Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Einheiten wird intensiv trainiert, um im Ernstfall schnell und routiniert reagieren zu können. Dabei ist auch jeder Einsatz gleichzeitig eine Übung für den nächsten Einsatz: In Hamburg oder Kiel gibt es regelmäßig bei Bauarbeiten Blindgängerfunde. Meist kann man den Einsatz entspannt vorbereiten, weil der Blindgänger in der Erde geortet wird und eine geplante Evakuierung von Wohnhäusern, Seniorenheimen oder Krankenhäusern in einem zuvor errechneten Umkreis erfolgen kann. Wenn der Blindgänger vom Bagger jedoch direkt aufgebaggert wird, besteht akute Gefahr und das Evakuierungsgebiet vergrößert sich immens. Gut, wenn man dann zuvor den 'Normalfall' mehrfach in Ruhe durchgespielt hat und die nötige Routine hat!"
Wie läuft im Ernstfall ein Einsatzfall ab der Alarmierung ab?
NT: "Im Ernstfall beginnt der Einsatz mit der offiziellen Ausrufung einer Katastrophenlage durch die zuständige höchste politische Instanz – in der Regel durch den Landrat auf kommunaler Ebene. Diese Entscheidung bedeutet unter anderem, dass alle verfügbaren Mittel einzusetzen sind. Verantwortlich ist der zuständige Landrat, die Verantwortung ist nicht delegierbar. Sofort werden die zuständigen Einsatzleitstellen informiert, die über digitale Listen und moderne Alarmierungssysteme wie Sirenen, Funkmelder und zunehmend auch mobile Apps anhand einer 'Ausrückordnung' sämtliche Einsatzkräfte mobilisieren. Je nach Lage kann das bedeuten, dass beispielsweise die Hausmeister in der Kommune nachts Schulen oder Sporthallen öffnen müssen, damit dort Notunterkünfte errichtet werden können, oder dass Großlager mit Nahrungsmitteln geöffnet werden. Sobald die Einsatzkräfte an ihrer Dienststelle eintreffen, erfolgt die weitere Abstimmung mit der Führungsebene, die in ständigem Kontakt mit der zentralen Einsatzleitung steht. Die integrierten Leitstellen verbinden die Strukturen von Feuerwehr und Rettungsdienst, sodass eine koordinierte und effektive Alarmierungs- und Einsatzsteuerung gewährleistet ist. Dann geht es los zum Einsatzort."
Wo waren die Johanniter im Norden zuletzt im Einsatz?
NT: "Im Norden waren die Johanniter in den vergangenen Jahren bei mehreren Großeinsätzen aktiv, etwa beim Ostseehochwasser 2023 in Schleswig-Holstein, bei dem wir sanitätsdienstliche Unterstützung, Betreuung und den Aufbau von Notunterkünften übernommen haben. Auch in Mecklenburg-Vorpommern gab es mehrere Einsatzfälle, zum Beispiel bei einem Großbrand in einem mit Munition belasteten Wald und auf einem ehemaligen Truppenübungsgelände bei Lübtheen. Da waren wir mit unserer Betreuungseinheit im Einsatz. Regelmäßig unterstützen wir bei Evakuierungen aufgrund von Bombenentschärfungen oder versorgen Einsatzkräfte der Feuerwehren bei langanhaltenden Einsätzen."
Zukunftsvisionen: Wie könnte der Bevölkerungs- und Katastrophenschutz in 20 Jahren aussehen, und welche Rolle spielt die Technologie dabei?
NT: "Blickt man in die Zukunft, stehen wir vor drei großen Herausforderungen. Zum einen wird der Einfluss von Naturereignissen wie Starkregen, Hochwasser oder Dürre – verbunden mit einer erhöhten Brandgefahr – weiter zunehmen. Betroffene Regionen müssen daher noch besser vorbereitet sein. Zum anderen ist die Resilienz der Bevölkerung entscheidend, da viele Menschen aktuell davon ausgehen, dass sie im Ernstfall umfassend geschützt sind, ohne sich selbst intensiv mit möglichen Krisenszenarien auseinanderzusetzen. Es kommt also auf jede einzelne Person an, sich mit dem Thema zu beschäftigen und vorzusorgen. Das schützt letztendlich alle. Schließlich wird auch die zunehmende Digitalisierung eine doppelte Herausforderung darstellen: Einerseits ermöglicht sie eine verbesserte Vernetzung und Steuerung im Krisenfall, andererseits steigt durch den Einsatz digitaler Technik auch die Anfälligkeit gegenüber Hackerangriffen und Ausfällen kritischer Infrastrukturen wie der Stromversorgung, Verwaltungssystemen oder sogar alltäglichen Einrichtungen wie Ampeln, Zapfsäulen oder dem Bankautomat. Daher wird es in Zukunft entscheidend sein, dass technologische Systeme nicht nur effizient, sondern auch redundant und ausfallsicher gestaltet werden – beispielsweise durch die Möglichkeit, Systeme manuell zu steuern oder alternative, nicht-elektronische Lösungen wie Handpumpen an der Tankstelle einzusetzen. Je spezialisierter unsere Technik ist, desto angreifbarer sind wir in allen Lebensbereichen."
Wie steht Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern da?
NT: "Deutschland verfügt über ein komplexes, mehrstufig organisiertes System des Bevölkerungsschutzes und Katastrophenschutzes, das auf verschiedenen Ebenen – Bund, Länder und Gebietskörperschaften – operiert. Jede dieser Ebenen entwickelt eigene Einsatz- und Planungskonzepte, die aber verzahnt sind. Das ermöglicht eine flexible und zielgerichtete Reaktion. Ein besonderes Merkmal unseres Systems ist das hohe Engagement von ehrenamtlichen Kräften: Hunderttausende Menschen bringen sich in Organisationen wie der Feuerwehr, dem Technischen Hilfswerk und den Johannitern aktiv ein. Dieses freiwillige Engagement geht meist mit einem starken Gemeinschaftsgefühl einher. Für viele Ehrenamtliche ist ihre Staffel oder Gruppe eine zweite Familie. Das ist in Deutschland nahezu einzigartig. In anderen europäischen Ländern wird der Katastrophenschutz häufig überwiegend hauptberuflich organisiert – etwa in der Schweiz über das Militär. Das ist nicht nur kostspieliger, sondern auch in der Bevölkerung weniger breit verankert. Die Systeme lassen sich also schwer vergleichen. Meiner Meinung nach stehen wir trotz der unterschiedlichen Ansätze in Sachen Krisenvorsorge und Einsatzfähigkeit durchaus auf einem guten Niveau, maßgeblich aufgrund des starken freiwilligen Engagements und der engen Zusammenarbeit aller Akteure. Ehrenamt hat bei uns ein hohes Ansehen in der Bevölkerung - wenn auch keine starke Lobby. Da gibt es noch Verbesserungspotenzial."