28.06.2024 | Dienststelle Ortsverband Nordenham

"Ruchlose Räuber": Einsatzkräfte trainieren für den Massenanfall von Verletzten

Das war nicht zu gewinnen: Nach einem Überfall auf einen Einkaufsmarkt sind die Ehrenamtlichen aus Nordenham mit vielen Betroffenen, fehlender Verstärkung sowie Wind und Wetter konfrontiert.

Ab 19:00 Uhr hatten sie ihre Einheit einsatzbereit zu halten und alle Funkgeräte auf einen anderen Kanal umzustellen. Mehr wussten Jonas Ohrmann, der als Gruppenführer die Gruppe der MANV-PA (Massenanfall von Verletzten/Patientenablage) leitet, sowie sein Kollege in Ausbildung Rene Junghans nicht über den vergangenen Dienstagabend. Um 19:12 Uhr kam dann der Alarm über den Sprechfunk: Ein Überfall auf einen örtlichen Supermarkt im Stadtteil Abbehausen war schief gegangen. Der Besitzer und eine Mitarbeiterin hatten Widerstand geleistet und wurden im Handgemenge schwer verletzt. Auf der Flucht hatten die Gangster eine Gruppe Jugendliche aus dem Weg räumen müssen, auch hier hatte es Verletzte gegeben. Zwei Jugendliche seien von dem Ereignis zudem traumatisiert. Und die Regelrettung war wegen Einsatzspitzen nicht zeitnah verfügbar... Erfreulicherweise verbarg sich hinter dem blutigen Szenario nur die Einsatzübung "Ruchlose Räuber", ausgedacht für die Ehrenamtlichen aus dem Ortsverband Nordenham, die sich in erweiterten Rettungsdienst engagieren. Doch vollkommen abwegig war die Lage nicht: "Wir erleben im ländlichen Raum immer wieder Einsatzspitzen, bei denen Rettungswagen nicht zeitnah verfügbar sind", erläutert Notarzt Markus Wedemeyer, der selbst in der Wesermarsch wohnt. "Viel problematischer sind sogenannte Flächenlagen, bei denen die benachbarten Landkreise wegen eigener Einsätze keine Hilfe schicken können. Die Ehrenamtlichen müssen es im Zweifel eine zeitlang auch alleine können", fasst der Fachdozent zusammen. "Und darauf haben wir 'Ruchlose Räuber' zugespitzt."

Als die Helfenden mit einem Krankentransportwagen und ihrem Gerätewagen mit Blaulicht und Martinshorn im Ort ankamen, zeichnete sich eine kritische Lage: Vor dem Eingang des Supermarktes liegt der Besitzer schwer verletzt am Boden, neben ihm die ebenfalls blutende Mitarbeiterin und eine verstörte Kundin. Auf der anderen Seite des Parkplatzes ruft eine Gruppe von fünf Jugendlichen um Hilfe. Alle Opfer der ruchlosen Räuber hatten Melanie Willms und Bettina Kiene von der Johanniter-Jugend vorbereitet.

Neben der medizinischen Aufgabenstellung verbarg sich hinter dem Szenario auch eine einsatztaktische Herausforderung: Es gab nicht genug Helfende, um alle Betroffenen vollumfänglich zu versorgen und zusätzlich die Infrastruktur der Patientenablage in Betrieb zu nehmen. Die beiden Einsatzorte lagen zudem 60 Meter auseinander und Verstärkung war nicht zu bekommen. Für Ohrmann und Junghans standen die schwierigen Entscheidungen an, ob sie das knappe Team teilen und ob sie auf Teile ihrer Ausstattung verzichten sollten - um Zeit zu gewinnen, was jedoch zu Lasten der Patientenversorgung gehen sollte. "Sie konnten nicht gewinnen", so Wedemeyer. Trotzdem müssen Einsatzführende mit solchen Situationen umgehen können. Mit wachsamen Auge verfolgten Dr. med. Silke Sell und die Ortsbeauftragte Tina Wessels, wie sich die Helfenden dennoch der Herausforderung stellten und sich auch von nahezu durchgehendem Regen und Wind nicht abhalten ließen. "Es ist schon etwas anderes, ob man sich als Team mit einem Patienten beschäftigen und ihn optimal versorgen kann", schildert Silke Sell, "oder ob ich unter Personalmangel und Zeitdruck handeln muss." Hinzu kam das beeindruckend realitätsnahe Schauspiel der Unfalldarsteller, die um Hilfe riefen und deren Zustand sich laufend veränderte, durch das die Helfenden voll in die Situation eintauchen konnten. "Einige Helfende sind an ihre Grenzen gekommen", schildert Silke Sell, doch: "Diese Erfahrung in der geschützten Übungssituation machen zu können, hilft bei der Vorbereitung auf den Ernstfall."Als Markus Wedemeyer sich mit Noel Möller, seinem Disponenten der Übungsleitstelle, entschied, das Übungsszenario nach knapp einer Stunde zu beenden, fühlten sich die Helfenden schon deutlich länger im Einsatz. Und obwohl diese menschlich wie medizinisch herausgefordert waren, war die Stimmung im Team gut. Man müsse, so sagt eine Helferin beim Abschlussbriefing, solche Situationen üben, damit sie im Realfall gut klappen.

Auch Rene Junghans zeigte sich zufrieden: Er und Jonas Ohrmann nehmen wertvolle Hinweise mit, welche Abläufe in ihrem Team schon gut klappen und bei welchen Punkten beide die Fortbildung der Einsatzkräfte weiter vertiefen möchten. Auch für ihn, der sich in seiner Ausbildung zum Gruppenführer so gut wie möglich auf diese Aufgabe vorbereiten möchte, war eine neue Erfahrung dabei: Dass man die Folgen seiner einsatztaktischen Entscheidungen als Führungskraft so unmittelbar aushalten muss wie bei den "Ruchlosen Räubern", kann man am grünen Tisch nur selten üben.