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Ethikkommission

Dem Leben dienen - bis zuletzt

(Foto: pixabay.com)

Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission des Johanniterordens zum assistierten Suizid

In seinem Urteil vom 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit des Verbotes der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung festgestellt und den 2015 vom Deutschen Bundestag verabschiedeten § 217 StGB für nichtig erklärt. Das Gericht stellt fest, dass der Gesetzgeber die Suizidhilfe sehr wohl regulieren, aber nicht völlig verbieten darf.
Nach Ansicht des Gerichts schließt das Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht nur die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, sondern auch das Recht, hierbei auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen. Es vertritt außerdem die Auffassung, das Recht zur Selbsttötung sei „nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt“, sondern bestehe in jeder Lebensphase. Die Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, entziehe „sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit“. Das Recht zur Selbsttötung könne auch „nicht mit der Begründung verneint werden, dass sich der Suizident seiner Würde begibt, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbstbestimmung aufgibt.“ Nach Ansicht des Gerichts ist die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben „vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung“ und somit, „wenngleich letzter, Ausdruck von Würde.“ Allerdings stellt das Gericht auch fest, dass niemand zur Suizidhilfe verpflichtet werden kann.

Die verfassungsrechtliche Frage, ob Menschenwürde und allgemeines Persönlichkeitsrecht zwingend nur in der Weise auszulegen sind, wie es das Bundesverfassungsgericht getan hat, wird unterschiedlich beantwortet. Art. 2 GG, mit dem das Gericht sein Urteil begründet, lautet: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ In einer pluralistischen Gesellschaft lässt sich über die Existenz eines universalgültigen Sittengesetzes und seinen Inhalt kaum noch ein Konsens erzielen. Man kann das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Dokument dieser Problematik lesen.

Die Kirchen und die Diakonie haben die Pflicht, für ihre biblisch begründete Sicht des Lebens und des Sterbens in einer pluralistischen Gesellschaft einzutreten und zu werben. Auch der Johanniterorden mit seinen Werken und Einrichtungen sieht seine Aufgabe darin, seine ethischen Grundwerte und Überzeugungen gegenüber Patienten, Angehörigen und der Öffentlichkeit zu kommunizieren.

Der Johanniterorden ist der Überzeugung, dass das Gericht ein Verständnis menschlicher Würde vertritt, das mit einem christlichen Verständnis von Menschenwürde nicht deckungsgleich ist. Nach christlicher Überzeugung gründet die Würde des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit und im Verständnis des Lebens als Gabe Gottes, die es vom ersten Moment bis zum letzten Atemzug zu achten und zu schützen gilt. Als Ebenbild Gottes ist jeder Mensch ein Abbild der göttlichen Liebe, unabhängig von seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung, seinen Leistungen, Stärken und Schwächen, seiner Gesundheit, Krankheit oder Behinderung. Darin gründet der Sinn unseres Daseins im Leben wie im Sterben und eine Hoffnung, die über den Tod hinausreicht.

In der ethischen, juristischen und theologischen Diskussion steht außer Frage, dass Menschenwürde und Selbstbestimmung bzw. Autonomie aufs engste miteinander zusammenhängen. Dem steht allerdings entgegen, dass die menschliche Lebenswirklichkeit nur sehr eingeschränkte Autonomieerfahrungen bietet. Strittig ist auch, ob Autonomie den inneren Kern der Menschenwürde ausmacht, sodass Menschenwürde und Autonomie geradezu synonym sind. Der Verlust der Autonomie kann in diesem Fall als Verlust der Menschenwürde gedeutet werden, was die Frage aufwirft, welchen Status Menschen – z.B. im irreversiblen Wachkoma haben.

Nach christlichem Verständnis lässt sich Autonomie als wesentlicher Ausdruck der Menschenwürde interpretieren, ist mit dieser aber nicht deckungsgleich. Mit der Gottebenbildlichkeit begründet die Bibel das Verbot, einen Menschen zu töten (vgl. 1. Mose 9,6). So gewiss der Mensch seinem Wesen nach zu einem selbstbestimmten und bewussten Leben bestimmt ist, lässt sich die Gottebenbildlichkeit des Menschen doch nicht auf seine theoretische und praktische Vernunft reduzieren. Unser Personsein ist mit unserer leiblichen Existenz gegeben. Alle lebenden Menschen haben die gleiche Würde, die nicht verloren oder ihnen abgesprochen werden kann. Auch Menschen im sogenannten Wachkoma und Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder mit einer fortgeschrittenen Demenz sind ebenso wie ungeborene Kinder Personen, weil Gott auch zu ihnen in einer personalen Beziehung steht. Sie sind dazu bestimmt, dass auch wir mit ihnen in einer von Liebe getragenen personalen Beziehung stehen und sie als Personen in unsere menschliche Gemeinschaft einbeziehen.

Weil der Mensch ein Beziehungswesen ist, bedeutet selbstbestimmtes Leben verantwortungsvoll zu leben. Die Verantwortung, die wir für uns selbst tragen, besteht nicht nur allein uns selbst gegenüber. Wir tragen sie auch gegenüber den Menschen, zu denen wir in Beziehung stehen, und vor Gott, dem wir das Leben als Gabe und Aufgabe verdanken.

Das Selbstbestimmungsrecht am Lebensende zu achten und zu stärken, ist aus Sicht christlicher Ethik zu begrüßen. Dazu gehören der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen, Therapieverzicht und Therapieabbruch, Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten. Die Achtung und Stärkung des Selbstbestimmungsrechtes von Patienten, Klienten, Bewohnerinnen und Bewohnern entspricht insoweit christlichen Grundsätzen, als es wohl ein Recht auf Leben, aber keine Pflicht zum Leben gibt, aus der das Recht des Staates abzuleiten wäre, einen Menschen – sofern er seine Entscheidungsfreiheit nicht durch eine psychische Erkrankung oder eine kognitive Beeinträchtigung eingeschränkt ist – gegen seinen ausdrücklichen Willen zum Weiterleben zu zwingen. Autonomie und Gewissensfreiheit sind auch aus christlicher Sicht ein hohes Gut. Unsere Letztverantwortung besteht gegenüber Gott.

Die Achtung der Selbstbestimmung eines Patienten steht freilich nicht notwendigerweise im Gegensatz zur Fürsorge. Sie ist vielmehr als Element der Fürsorge zu verstehen. Allerdings kann die Furcht vor paternalistischer Bevormundung in die Verweigerung von gebotener Zuwendung und Fürsorge umschlagen. Zur Fürsorge im christlichen Sinne gehört die grundsätzliche Verantwortung, unseres Bruders und unserer Schwester Hüter zu sein (vgl. 1. Mose 4,9).

Die einseitige Betonung des Selbstbestimmungsrechts, ganz unabhängig davon, ob jemand schwerkrank oder nur seines Lebens überdrüssig ist, birgt jedoch Gefahren für den Lebensschutz. Zwar ist gegenüber spekulativen Dammbruchargumenten Vorsicht geboten. Die Entwicklung in den Beneluxstaaten zeigt aber, dass die Erweiterung des Angebotes die Nachfrage steigert1. Daher steht zu befürchten, dass sich der Druck auf Patienten und pflegebedürftige Menschen sowie auf Menschen mit Behinderungen erhöht, welche von erweiterten Möglichkeiten der Suizidhilfe keinen Gebrauch machen wollen. In Anbetracht steigender Kosten im Gesundheitswesen und in der Pflege wäre eine solche Entwicklung verhängnisvoll.

Der Johanniterorden weist den Vorschlag, in diakonischen Einrichtungen besonders qualifizierte interdisziplinäre Teams zu bilden, um Hilfe zum Suizid zu leisten,2 entschieden zurück. Ebenso lehnt der Orden die Mitwirkung von eigens geschulten Seelsorgerinnen und Seelsorgern an professioneller Suizidassistenz als „erweiterte Kasualpraxis“ in Gestalt der Begleitung der Angehörigen und der Suizidenten ab. Die Einrichtungen des Johanniterordens bieten kein regelhaftes Angebot der Suizidhilfe und tragen dafür Sorge, dass eine solche Hilfe auch nicht durch Ärzte, Pflegefachpersonen und jegliches Personal der Einrichtungen des Ordens geleistet wird. Niemand, der im Wirkungsbereich des Ordens tätig ist, darf offen oder verdeckt genötigt werden, am Suizid eines Dritten in irgendeiner Art und Weise mitzuwirken. Aus der Verweigerung darf auch niemandem ein beruflicher oder sonstiger Nachteil entstehen.

Der Johanniterorden vertritt die Überzeugung, dass Suizidhilfe weder ein Teil der ärztlichen noch der pflegerischen Tätigkeit ist. Genauso wie Ärzte können auch Pflegende mit dem Wunsch von Patienten oder Bewohnern von Pflegeheimen oder Einrichtungen der Altenhilfe nach Sterbehilfe oder Suizidhilfe konfrontiert werden. Hier braucht es dringend ethische Richtlinien und auch gesetzliche Regelungen im Berufsrecht für Pflegefachkräfte. Darüber hinaus fordert der Johanniterorden verbindliche rechtliche Regelungen, die auch für die Rechtsträger von Kliniken, Alten- und Pflegeheimen und Einrichtungen der Behindertenhilfe – vor allem im Bereich von Kirche und Diakonie – sicherstellen, dass diese auch nicht von Heimbewohnern oder Patienten genötigt werden können, solche Handlungen zu setzen. Es muss feststehen, dass Einrichtungen der Diakonie vorab bei Aufnahme in ihre Kliniken,
Einrichtungen der stationären Langzeitpflege und dergleichen zivilrechtlich wirksame Vereinbarungen treffen können, nicht Maßnahmen der Suizidhilfe mitwirken müssen. Dies muss auch dadurch abgesichert sein, dass nicht solchen Rechtsträgern irgendwelche Berechtigungen oder sonstige öffentlich-rechtliche Subventionen deshalb entzogen werden dürfen.

„Wer nicht mehr leben kann, dem hilft auch der Befehl, dass er leben soll, nicht weiter“ (Dietrich Bonhoeffer). Aus christlicher Sicht ist niemand zum Leben oder Weiterleben zu zwingen, wohl aber zum Leben zu ermutigen. Geäußerte Sterbewünsche und Suizidabsichten sind ernst zu nehmen. Sie dürfen aber auch nicht unbedacht als Ausdruck eines autonomen Willens und einer wohlüberlegten freien Entscheidung genommen werden, sondern sind eher regelhaft verbunden mit physischen oder psychischen Erkrankungen oder können ein Symptom für tieferliegende Probleme (empfundene Ausweglosigkeit) sein, auf die eine andere Antwort als die Umsetzung des Suizidwunsches in die Tat gegeben werden muss. Menschen mit suizidaler Absicht können auch krankheitsbedingt phasenweise in ihrer Willens- und Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt sein. Deshalb sind vorbeugende Schutzkonzepte unerlässlich, und die Einrichtungen des Johanniterordens bleiben auch in Zukunft Schutzräume für Schwache und Lebensmüde.

Ein konkretes Beispiel für derartige Schutzkonzepte sind Instrumente des Vorsorgedialogs bzw. Advance Care Planning. Die Langzeit-Pflegeeinrichtungen des Johanniterordens sehen es als eine Aufgabe, im Sinne von „Schutzkonzepten“ für Advance Care Plannung und Instrumente der gemeinsamen Entscheidungsfindung zu sorgen, die ihr Augenmerk auf die Vulnerabilität der Patienten und Bewohner richten. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung („shared decision making“) von Patienten, Bewohnern oder ihren gesetzlichen Vertretern, Ärzten und Pflegepersonen setzt voraus, dass die Betroffenen ausreichend informiert entscheiden können. Viele Patienten und Bewohner sind dazu jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr in der Lage und deshalb in besonderem Maße schutzbedürftig. Die Einrichtungen des Johanniterordens nehmen ihre Aufgabe als Schutzräume auch dadurch wahr, dass sie in ihren Räumlichkeiten keine Vortrags- oder Informationsveranstaltungen von Sterbehilfeorganisationen zum assistierten Suizid durchführen.

Wie es Fälle der Selbsttötung geben kann, in denen sich ein moralisches und erst recht ein theologisches Urteil verbietet, so auch Fälle der Suizidhilfe. Es kann Situationen geben, in denen ein Mensch – auch wenn er sein Gewissen vor Gott prüft – für sich keinen anderen Weg sieht, als einem anderen Menschen bei der Selbsttötung zu helfen oder zur Seite zu stehen. Das kann im Einzelfall auch als eine Aufgabe der seelsorglichen Begleitung gesehen werden. Solche Fälle können als Grenzfälle vorkommen, als tragische Situation oder als ethisches Dilemma, in der sich die Betroffenen vor die unmögliche Wahl einer tragic choice gestellt sehen.

Es entspricht der grundlegenden evangelischen Sichtweise von Sünde, Glaube und Rechtfertigung, von Freiheit, Liebe und Verantwortung vor Gott und den Menschen sowie den Grenzen der Ethik und des Ethischen, wenn eine solche Handlungsweise im konkreten Einzelfall dem göttlichen Urteil überlassen bleibt. Keinesfalls darf aber daraus gefolgert werden, dass der Einsatz für das Leben und die Entscheidung für den Tod aus christlicher Sicht gleichrangige Optionen sind.

Organisierte Suizidhilfe macht aus möglichen individuellen Grenzfällen ein regelhaftes, institutionalisiertes Handeln. Dies ist aber mit den ethischen Grundsätzen des Johanniterordens nicht in Einklang zu bringen. Der Orden betrachtet mit Sorge, dass die Legalisierung – und das heißt auch Reglementierung – organisierter Suizidhilfe Auswirkungen auf die gesellschaftliche Einstellung zu Sterben und Tod hat, die wiederum Rückwirkungen auf den Einzelfall haben, in denen ein schwerkranker Patient und seine Angehörigen vor der drängenden Frage stehen, wie sie die Situation ertragen können und welche Hilfe der Leidenslinderung es für sie gibt.

Von der abgelehnten Suizidhilfe ist die Ermöglichung und Begleitung des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) zu unterscheiden. Palliativgesellschaften weisen zu Recht auf die bestehenden Unterschiede zwischen FVNF und Suizid hin. Allerdings lässt sich zwischen beiden Handlungsweisen nicht in jedem Fall eine kategorische Grenze ziehen. Was dies für die Praxis in kirchlich-diakonischen Einrichtungen bedeutet, wird weiter zu diskutieren sein.

Der Grundsatz der Diakonie und des Johanniterordens kann nicht lauten: „Sterbewünsche erfüllen“, sondern nur: „Dem Leben dienen – bis zuletzt“. Dazu gehört die Begleitung im Sterben, nicht aber die Herbeiführung des Todes.

Zu den Aufgaben von Diakonie und Seelsorge, Medizin und Pflege gehört es freilich auch, Sterbewünsche von Patienten und Bewohnern wahrzunehmen und darüber mit den Betroffenen in ein vertrauensvolles Gespräch zu kommen, statt sie mit ihren Ängsten und Gedanken alleinzulassen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benötigen dafür professionelle Unterstützung. Deshalb braucht es in den Einrichtungen Instrumente der strukturierten, prozessorientierten Ethikberatung und einer etablierten Organisationsethik sowie Schulungen zum Umgang mit Todeswünschen von Klienten und Patienten.

Auch wenn der Johanniterorden die Ansicht vertritt, dass Suizidhilfe kein Teil der ärztlichen Tätigkeit ist und dies auch in Zukunft nicht sein soll, dürfte ein offenes – selbstverständlich vertrauliches und der ärztlichen Schweigepflicht unterliegendes – Gespräch zwischen Arzt und Patient über einen bestehenden Suizidgedanken oder gar Suizidwunsch sowie über verschiedene Möglichkeiten der Selbsttötung gerade der Suizidprophylaxe dienen. Über die Möglichkeit des Suizids zu sprechen, kann aber eine befreiende Wirkung haben, weil der Betroffene nun nicht mehr mit seinen Gedanken allein ist. Jede Regulierung ärztlicher Suizidhilfe wertet diese freilich zu einem Teil der ärztlichen Tätigkeit auf, was der Johanniterorden ablehnt.

Befürworter einer professionellen Suizidassistenz in kirchlich-diakonischen Einrichtungen sehen eine Aufgabe darin, „brutale“ Suizide zu verhindern. Zwar mag es sein, dass ein unter ärztlicher Assistenz durch Einnahme von Barbituraten vollzogener Suizid, der ohne äußere Qualen verläuft, als gewaltarm empfunden wird. Für den Suizidwilligen und diejenigen, die ihn begleiten, mag das zutreffen.

Es ist aber doch auch zu bedenken, welche Folgen die Etablierung einer professionalisierten Suizidassistenz für Mitbewohner einer Einrichtung, für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch für die Angehörigen anderer Heimbewohnerinnen und -bewohner und somit für die gesamte Kultur des Hauses hat. Was löst es bei Bewohnern aus, wenn sie wissen, dass mit Hilfe des Personals regelhaft Suizide ausgeführt werden? Wie weit wird dadurch der Lebenswille der übrigen Bewohner geschwächt und somit die Suizidprävention in der Einrichtung konterkariert? Ist nicht auch das eine Form von Gewalt? Zudem ist, wie die Zahlen aus anderen Ländern nahelegen, zu befürchten, dass die Anzahl sonstiger Suizide durch prozessorale Regelungen nicht wesentlich sinken wird.

Auch wenn es der Johanniterorden aufgrund seiner christlichen Grundlagen ablehnt, in seinen Einrichtungen durch eigene Mitarbeiter Suizidhilfe zu leisten, kann möglicherweise nicht ausgeschlossen werden, dass er sich künftig aufgrund staatlicher Gesetzgebung gezwungen sieht, Suizidhilfe durch Dritte in seinen Häusern zuzulassen. Hierbei ist wohl, was das Hausrecht und Aktivitäten Dritter betrifft, zwischen Krankenhäusern, Hospizen, betreutem Wohnen und Pflegeeinrichtungen zu unterscheiden. Ob oder in welchen Fällen kraft Hausrecht oder durch Heimverträge Suizidhelfern der Zutritt verweigert werden darf, ist rechtlich zu prüfen. Im Unterschied zu Krankenhäusern sind stationäre Pflegeeinrichtungen der dauerhafte Wohnort für ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Bewohnerverträge, die es Bewohnerinnen und Bewohnern untersagen, Suizidhelfer zu sich zu lassen, stellen möglicherweise einen unzulässigen Eingriff in Grundrechte dar, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 verfassungswidrig sind. Der Johanniterorden wird die Möglichkeit verfassungskonformer Formen der Duldung von Suizidhilfe Dritter in eigenen Häusern prüfen, die sich nicht als Billigung missverstehen lassen. Darüber, wie mit dieser Möglichkeit diakonisch und seelsorglich verantwortungsvoll umgegangen werden kann, sind weitere Beratungen erforderlich.

Auch wenn Kirche und Diakonie die regelhafte Suizidassistenz ablehnen, können sie nicht ausschließen, dass die Dienstleistung von Sterbehilfeorganisationen in Anspruch genommen wird, genauso wenig wie die Suizidassistenz von Ärzten, die nicht mit derartigen Organisationen kooperieren. Ihre Aktivitäten durch diakonieeigene Sterbehilfeangebote unterbinden zu wollen, geht jedoch in die falsche Richtung. Die gesetzliche Rechtmäßigkeit des Handelns von Sterbehilfeorganisationen, das möglicherweise auch von Kirchenmitgliedern in Anspruch genommen wird, ist von den Kirchen zu respektieren. Das hindert sie jedoch nicht daran, weiterhin für ihre Sichtweise einzutreten, dass vom christlichen Verständnis des Lebens als Gabe und Aufgabe her der Suizid eine vor Gott zu verantwortende Ausnahmehandlung und die gewerbsmäßige Suizidhilfe nicht mit christlicher Ethik vereinbar ist.

Der Johanniterorden sieht es als seine Aufgabe, an der Verbesserung und dem Ausbau einer flächendeckenden Palliativversorgung mitzuwirken. Pflegeeinrichtungen des Ordens sollten vermehrt von palliativen Angeboten Gebrauch machen. Örtliche Hospizvereine und die regionale ambulante Palliativversorgung (SAPV) sollten in keiner Alteneinrichtung fehlen. Bereits vorliegende Gesetzentwürfe zur Regelung der Suizidhilfe sehen die verpflichtende Beratung von Suizidwilligen vor. Ein flächendeckendes Beratungssystem wird erhebliche Kosten verursachen. Die politische Forderung von Kirche und Diakonie muss lauten, dass der Staat zumindest die gleiche Summe, wenn nicht sogar mehr, zusätzlich für den weiteren Ausbau von Hospizen, Palliativmedizin, Palliative Care und Suizidprävention aufwendet.

Die gesellschaftliche Aufgabe besteht darin, den Ängsten und der Einsamkeit der Schwerkranken und Sterbenden entgegenzuwirken und eine neue Kultur der Solidarität mit den Sterbenden zu entwickeln. Was Sterbende brauchen, ist unsere Solidarität, nicht das todbringende Medikament.

Ärzte und Pflegende, wie überhaupt alle, die Sterbende begleiten, sind auf Unterstützung und öffentliche Solidarität wie auf qualifizierte medizinethische Aus- und Fortbildung angewiesen. Die geforderte Kultur der Solidarität schließt praktische Maßnahmen zur Beseitigung von personellen, räumlichen und strukturellen Engpässen in der Pflege sowie eine gesellschaftliche, aber auch finanzielle Aufwertung des Pflegeberufs ein. Gefordert ist eine Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, aber auch der Medizin und der Pflege in Kliniken und Einrichtungen der Langzeitpflege, welche die Würde des Menschen im Leben wie im Sterben achtet.


- Leitsätze -

In seinem Urteil vom 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit des Verbotes der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung festgestellt und den 2015 vom Deutschen Bundestag verabschiedeten § 217 StGB für nichtig erklärt. Das Gericht stellt fest, dass der Gesetzgeber die Suizidhilfe sehr wohl regulieren, aber nicht völlig verbieten darf. Zur Frage, wie Suizidhilfe aus christlicher Sicht zu beurteilen ist und welche Konsequenzen aus dem Gerichtsurteil für die eigenen Einrichtungen zu ziehen sind, bezieht der Johanniterorden folgendermaßen Stellung:

1. Die Kirchen und die Diakonie haben die Pflicht, für ihre biblisch begründete Sicht des Lebens und des Sterbens in einer pluralistischen Gesellschaft einzutreten und zu werben. Auch der Johanniterorden mit seinen Werken und Einrichtungen sieht seine Aufgabe darin, seine ethischen Grundwerte und Überzeugungen gegenüber Patienten, Angehörigen und der Öffentlichkeit zu kommunizieren.

2. Nach christlicher Überzeugung gründet die Würde des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit und im Verständnis des Lebens als Gabe Gottes, die es vom ersten Moment bis zum letzten Atemzug zu achten und zu schützen gilt. Als Ebenbild Gottes ist jeder Mensch ein Abbild der göttlichen Liebe, unabhängig von seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung, seinen Leistungen, Stärken und Schwächen, seiner Gesundheit, Krankheit oder Behinderung. Darin gründet der Sinn unseres Daseins im Leben wie im Sterben und eine Hoffnung, die über den Tod hinausreicht.

3. Der Johanniterorden weist den Vorschlag, in diakonischen Einrichtungen besonders qualifizierte interdisziplinäre Teams zu bilden, um Beihilfe zum Suizid zu leisten, entschieden zurück. Ebenso lehnt der Orden die Mitwirkung von eigens geschulten Seelsorgerinnen und Seelsorgern an professioneller Suizidassistenz als „erweiterte Kasualpraxis“ in Gestalt der Begleitung der Angehörigen und der Suizidenten ab.

4. Die Einrichtungen des Johanniterordens bieten kein regelhaftes Angebot der Suizidhilfe und tragen dafür Sorge, dass eine solche Hilfe auch nicht durch Ärzte, Pflegefachpersonen und jegliches Personal der Einrichtungen des Ordens geleistet wird.

5. Der Johanniterorden vertritt die Überzeugung, dass Suizidhilfe weder ein Teil der ärztlichen noch der pflegerischen Tätigkeit ist.

6. Aus christlicher Sicht ist niemand zum Leben oder Weiterleben zu zwingen, wohl aber zum Leben zu ermutigen. Deshalb sind vorbeugende Schutzkonzepte unerlässlich, und die Einrichtungen des Johanniterordens bleiben auch in Zukunft Schutzräume für Schwache und Lebensmüde.

7. Wie es Fälle der Selbsttötung geben kann, in denen sich ein moralisches und erst recht ein theologisches Urteil verbietet, so auch Fälle der Suizidhilfe. Keinesfalls darf aber daraus gefolgert werden, dass der Einsatz für das Leben und die Entscheidung für den Tod aus christlicher Sicht gleichrangige Optionen sind.

8. Organisierte Suizidhilfe macht aus möglichen individuellen Grenzfällen ein regelhaftes, institutionalisiertes Handeln. Dies ist aber mit den ethischen Grundsätzen des Johanniterordens nicht in Einklang zu bringen. Der Orden betrachtet mit Sorge, dass die Legalisierung – und das heißt auch Reglementierung – organisierter Suizidhilfe Auswirkungen auf die gesellschaftliche Einstellung zu Sterben und Tod hat, die wiederum Rückwirkungen auf den Einzelfall haben, in denen ein schwerkranker Patient und seine Angehörigen vor der drängenden Frage stehen, wie sie die Situation ertragen können und welche Hilfe der Leidenslinderung es für sie gibt.

9. Der Grundsatz der Diakonie und des Johanniterordens kann nicht lauten: „Sterbewünsche erfüllen“, sondern nur: „Dem Leben dienen – bis zuletzt“. Dazu gehört die Begleitung im Sterben, nicht aber die Herbeiführung des Todes.

10. Zu den Aufgaben von Diakonie und Seelsorge, Medizin und Pflege gehört es freilich auch, Sterbewünsche von Patienten und Bewohnern wahrzunehmen und darüber mit den Betroffenen in ein vertrauensvolles Gespräch zu kommen, statt sie mit ihren Ängsten und Gedanken alleinzulassen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benötigen dafür professionelle Unterstützung. Deshalb braucht es in den Einrichtungen Instrumente der strukturierten, prozessorientierten Ethikberatung und einer etablierten Organisationsethik sowie Schulungen zum Umgang mit Todeswünschen von Klienten und Patienten.

11. Der Johanniterorden sieht es als seine Aufgabe, an der Verbesserung und dem Ausbau einer flächendeckenden Palliativversorgung mitzuwirken. Pflegeeinrichtungen des Ordens sollten vermehrt von palliativen Angeboten Gebrauch machen. Örtliche Hospizvereine und die regionale ambulante Palliativversorgung (SAPV) sollten in keiner Alteneinrichtung fehlen. Bereits vorliegende Gesetzentwürfe zur Regelung der Suizidhilfe sehen die verpflichtende Beratung von Suizidwilligen vor. Ein flächendeckendes Beratungssystem wird erhebliche Kosten verursachen. Die politische Forderung von Kirche und Diakonie muss lauten, dass der Staat zumindest die gleiche Summe, wenn nicht sogar mehr, zusätzlich für den weiteren Ausbau von Hospizen, Palliativmedizin, Palliative Care und Suizidprävention aufwendet.

12. Die gesellschaftliche Aufgabe besteht darin, den Ängsten und der Einsamkeit der Schwerkranken und Sterbenden entgegenzuwirken und eine neue Kultur der Solidarität mit den Sterbenden zu entwickeln. Was Sterbende brauchen, ist unsere Solidarität, nicht das todbringende Medikament.


1 Vergleicht man den absoluten Anteil an assistierten Suiziden an den Sterbezahlen insgesamt, ist die Entwicklung im amerikanischen Bundesstaat Oregon und in der Schweiz weniger ausgeprägt als in den Niederlanden, wo es allerdings auch Tötung auf Verlangen gibt. Jedoch ist auch in Oregon und in der Schweiz ein relativer Anstieg der Zahlen assistierter Suizide zu beobachten.

2 Vgl. Reiner Anselm/Isolde Karle/Ulrich Lilie, Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen, FAZ, Nr. 8, 11.1.2021, S. 6.