Ziel ist nicht, mit den meisten Pokalen in der Vitrine zu sterben
Einer will immer besser als der andere sein. Das Gerangel um die ersten Plätze hat auch Jesus erfahren. Doch ermuntert er stattdessen zur "ehrgroßzügigen" Konkurrenz. Für uns heute können wir einiges lernen. Eine Predigt von Pastor Martin Hofmann.
Liebe Gemeinde, ich hatte einen Traum: Ich träumte eine Welt ohne jede Konkurrenz… Keiner versucht den anderen zu übertrumpfen, keine strebt danach, irgendwie besser zu sein als die andere, keiner will irgendwo Spitze sein. Dann bin ich aufgewacht, schaute mich um und atmete erleichtert auf: Es war nur ein Traum.
Liebe Gemeinde, eine Welt ohne Konkurrenz ist vielleicht gar nicht so traumhaft, wie man so denkt. Konkurrenz heißt ja erst einmal zusammenlaufen. Aber, wenn nicht irgendwo ein Ziel winkt, gerät der Lauf ins Stocken. Konkurrenz belebt das Geschäft, sagt der Volksmund und der Hebräerbrief ermutigt: „Lasst uns aufeinander achthaben und einander anspornen zur Liebe und zu guten Werken“ (Heb 10,24) Ohne Konkurrenz sähe die Welt anders aus. Wenn es Spitzen nur noch an Bleistiften und Sofadeckchen gäbe, hätten wir keine Spitzenköche und Spitzensportlerinnen, keine Ersten Geigen und keine Primaballerinen, keine 5 Sterne Hotels und kein Grand Prix de Eurovision, auch keine Spitzenorganisten. Es gäbe auch kein Mittelmaß, denn für ein Mittelmaß, für jedes Maß braucht es ja ein oben und unten.
Die Bibel erzählt: Wir leben in Konkurrenz von Anfang an, in Konkurrenz mit unseren Geschwistern (das geht nicht immer gut aus: siehe Kain und Abel), in Konkurrenz um Erstgeburtssegen (siehe Jakob und Esau), in Konkurrenz um gelobte Länder (siehe Israeliten und Kanaaniter). Wir leben in Konkurrenz. Und das ist gut so! Damit ist nicht das Loblied des Kapitalismus gesungen, nicht die Hymne auf das Überleben der Stärkeren: Es gehört zu den Grunderfahrungen menschlichen Seins, sich im Lauf mit anderen behaupten zu müssen, seinen Platz zu finden, das Beste zu versuchen.
Unser Predigttext berichtet von 12 Jüngern am Start: Johannes und Jakobus, die impulsiven Donnersöhne, werfen ihren Hut in den Ring fürs Himmelreich: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, was wir dich bitten werden: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Mir fällt der Satz einer Frau ein, die ich im letzten Jahr beerdigen musste und die am Ende sagte: „Wolke 4 reicht auch, dann bin ich näher bei meiner Familie“. Unsere beiden Brüder hingegen wollen höher hinaus, in den 7. Himmel, an den Kopf des großen Tisches, Schulter an Schulter zur Rechten und zur Linken mit dem lieben Gott. Ich gebe zu: Die Frau, die nur auf Wolke 4 wollte, ist mir wesentlich sympathischer. Und trotzdem: Hinter der Sehnsucht nach dem ersten Platz in der Herrlichkeit steht ein Wunsch, den ich verstehe, der auch mir nicht fremd ist: Ich will wissen, ob ich am Ende mein Recht bekomme, ob mein kleines Leben mit all seinen Widersprüchen als Unterschrift für Psalm 73 taugt: „Du nimmst mich am Ende mit Ehren an.“ Es ist gar nicht die Frage nach einer himmlischen Tischordnung, es ist die Frage nach dem Hier und Jetzt: „Ergibt das, was ich tue am Ende einen Sinn?“
Jakobus und Johannes bitten um ihre Platzreservierung auf dem Weg nach Jerusalem. Gerade eben hat ihr Meister ihnen offenbart, dass dieser Weg ihn in den Tod führen wird. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Ganz schön vollmundig, die beiden Donnersöhne. Sie ähneln Simon Petrus: Niemals werde ich dich verleugnen! Aber die beiden wollen sicher sein: Wir können den Kelch trinken, den du trinkst, wenn du uns jetzt und hier in die Hand versprichst, dass unser Leiden sich lohnen wird. Okay, sagt Jesus: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.
Die Jünger Jesu scheinen also genauso wenig wie wir heute ihre Beziehung zum Heiland spielen lassen zu können, auf dass das klar geht mit der Platzreservierung zur Rechten und zu Linken. Jesus ist die Tür, nicht die Rezeption. Er scheint keinen Einfluss auf die Tischordnung zu haben. Am Ende seines Lebens sitzen nicht die glaubenseifrigen Donnersöhne ihm zur Rechten und zur Linken. Am Ende hängen dort 2 Verbrecher. Zum einen wird er sagen: „Wahrlich, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“
Das Gerangel um die ersten Plätze bringt Unruhe in die Jüngerschar: Als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. Aus Angst, selbst auf den hinteren Rängen zu landen, empören sie sich, denken vielleicht auch insgeheim: „Warum habe ich Idiot nicht vor den beiden um die VIP-Lounge gebeten?!“ Konkurrenz im Himmel wie auf Erden. Robert Gernhardt dichtete einmal für seine Tochter kurz vorm Abitur:
Einer immer begabter als Du. Du liest, er lernt. Du lernst, er forscht. Du forschst, er findet: Einer immer noch begabter.
Immer einer berühmter als Du. Du stehst in der Zeitung, er im Lexikon. Du stehst im Lexikon, er in den Annalen. Du stehst in den Annalen, er steht auf dem Sockel: Einer immer berühmter.
Einer immer beliebter als Du. Du wirst gelobt, er wird geliebt. Du wirst geehrt, er wird verehrt. Dir liegt man zu Füßen, ihn trägt man auf Händen: Einer immer beliebter.
Einer immer besser als Du. Du kränkelst, er liegt danieder. Du stirbst, er verscheidet. Du bist gerichtet. Er ist gerettet: Einer immer noch besser. Immer, immer, immer…
Das ist das Schmerzhafte an der Konkurrenz. Einer immer noch besser, höher, schneller, weiter, einer hat immer eine noch dickere Tante. Immer, immer, immer… Das Gerangel um die ersten Plätze packt die anderen 10 Jünger bei ihrem „Ehrgeiz“ - ein furchtbares deutsches Wort. Wer ehrgeizig ist, geizt den anderen die Ehre. Ehrgeiz…. Interessanterweise gibt es im Deutschen nicht das Gegenteil, etwa „Ehrgroßzügigkeit“.
Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht. Zumindest sollte es so unter euch nicht sein, sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
Jesus ermuntert zur ehrgroßzügigen Konkurrenz. Leben, das gelingen will, erhebt sich nicht ehrgeizzerfressen über den Rest der Welt. Leben, das gelingen will, macht den Rest der Welt großzügig satt mit Brot und Ehre. Keiner von den Zwölfen hatte das begriffen, die beiden vorpreschenden Donnersöhne nicht, und der unwillige Rest auch nicht.
Ich stelle mir vor, was gewesen wäre, wenn irgendeiner von ihnen gesagt hätte: Meister, ich will, dass du für die beiden tust, was sie dich bitten: Gib ihnen, dass sie sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Ich gönne es ihnen und überlasse ihnen den Vortritt. Wolke 4 reicht mir auch. Betretenes Schweigen hätte 30 nach Christus im Raum geherrscht. Jakob und Johannes puterrot vor Scham, Jesus mit Freudentränen in den Augen: Wenigstens einer hat’s kapiert! Wenigstens einer hat verstanden, dass Liebe heißt, dem anderen sein Glück zu gönnen. Liebe Gemeinde, ich habe einen Traum. Ich träume von einer Welt, in der jede mit jedem ehrgroßzügig konkurriert im Vertrauen darauf, dass alle im Himmel wie auch auf Erden Platz haben, in der der Mensch sein Bestes versucht, dass das Leben des anderen gut wird, in dem Konkurrenz nicht Verdrängung heißt, sondern eben zusammenlaufen. Ziel ist nicht, am Ende mit den meisten Pokalen in der Vitrine zu sterben, Ziel ist, dass keiner abgehängt wird.
Das mag sich alles nach einem frommen Wunsch anhören in unseren Kämpfen um Impfstoffe, Toilettenpapier, Sonnenblumenöl und Weizenprodukten. Aber zumindest fragen kann man ja schon, ob es wirtschaftlich schlau ist, 20 Hektoliter Sonnenblumenöl in der heimischen Speisekammer zu hamstern oder epidemiologisch sinnig, dass im Moment jeden Tag weltweit sechsmal mehr Auffrischungsimpfungen verabreicht werden als Erstdosen in Ländern mit niedrigem Einkommen. Ist es hilfreich, wenn in Zeiten von begrenzten Energievorräten überall noch erstaunlich wenig Menschen in erstaunlichen großen Autos erstaunlich viel Benzin für erstaunlich wenig Kilometer verbrauchen? Ich frage nicht nach theologischer oder moralischer Richtigkeit, ich frage nur: Ist das klug, mit einem ehemaligen US-Präsidenten, dessen Namen ich leider vergessen habe, zu sagen: Me first! Ich zuerst, an den Supermarktregalen, an der Impfnadel, an der Zapfsäule, beim Festbankett in Gottes kommender Welt.
Ich bin nur Pastor, ich kann das nicht beantworten, aber ich glaube, der liebe Gott ist klüger als wir alle zusammen. Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
Liebe Gemeinde, ich habe einen Traum. Ich träume von einer Welt, in der jede mit jedem ehrgroßzügig konkurriert im Vertrauen darauf, dass alle im Himmel wie auch auf Erden Platz haben, in der der Mensch sein Bestes versucht, dass das Leben des anderen gut wird. Amen.
Text: ER Pastor Martin Hofmann (Predigt Sonntag Judika, 3. April 2022, Mk 10,35-45)