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28.09.2022 | Hamburgische Kommende des Johanniterordens

Welches Leben müssten wir führen, um einmal Gott dankbar sein zu können?

Dankbar sein - was heißt das eigentlich? Im Alltag, wie auch im Glauben an Gott, womit wir bekennen: Ich verdanke mich nicht mir selbst. Ich bin beschenkt, auch wenn ich es vielleicht gerade nicht sehen kann. Eine Predigt von Pastor Martin Hofmann.

Liebe Gemeinde,
auch das schönste Geschenk wird entwertet, wenn man es mit Dank bezahlen muss. Ich erinnere mich an einen braun-orangen Pullover, kratzig, 100% Polyester – die 70er waren grausam. „Hast du dich dafür schon bedankt?“ fragte meine Mutter. Also hob ich den Hörer und dankte wohlerzogen der edlen Strickerin. Undank ist der Welten Lohn!

Am 22. Februar beklagte sich Wladimir Putin über seine undankbaren Nachbarn (wobei ich schon damals nicht verstanden hatte, wofür die Ukrainerinnen und Ukrainer ihm eigentlich zu danken hätten). Zwei Tage später begannen sogenannte Truppenbewegungen, die andere Kriegsverbrechen nennen. Um Dankbarkeit geht es in unserem Predigttext.

Auch unser Gesangbuch ist voller Dankbarkeit: Nun danket alle Gott. Danket, danket dem Herrn. Danke für diesen guten Morgen. (Wobei gerade beim letzten Lied manchem die Dankbarkeit aus dem Gesicht weicht, wenn er „Danke für meine Arbeitsstelle“ singen muss). Trotzdem: Dankbarkeit ist wichtig. Unbestritten. Es sensibilisiert für all das, was gut ist im Leben. Es weitet den Blick über das hinaus, was unser Leben schwer macht. Haben Sie Grund zu danken? Man ist ja fast verpflichtet, darauf brav und wohlerzogen mit „Ja“ zu antworten. Immerhin leben wir in einem freien Land. Immerhin haben wir eine Familie. Immerhin haben wir eine Arbeitsstelle. Immerhin sind wir halbwegs gesund. Immerhin...

Du solltest dankbar sein, sagte die Mutter eines Schulfreundes, als sie ihm Rosenkohl servierte. Die armen Menschen in Afrika würden sich an deiner Stelle freuen. Das ist grundsätzlich natürlich richtig, aber nur ein schwacher Trost, wenn man Rosenkohl nicht ausstehen kann. Sobald Dank zur Pflicht wird, wird‘s trostlos.

Du solltest dankbar sein, immerhin... Der Amputierte wird sich nur bedingt an seinem gesunden verbliebenen Bein freuen. Die Witwe bleibt trostlos, obwohl sie doch immerhin so eine wunderbare Familie hat. Der Migränepatientin hilft es wenig, wenn andere noch viel, viel schlimmer dran sind. Es gehört zur Tradition, dass die Älteren den Jüngeren vorwerfen, sie seien ein „undankbares Geschlecht“. Was haben wir nicht alles für euch getan? Und was ist der Dank? „Von allen Verbrechen, derer menschliche Wesen fähig sind, ist das schrecklichste und unnatürlichste die Undankbarkeit“, schrieb David Hume vor fast 300 Jahren.

Den Kindern, die in den letzten Jahren groß wurden, auch den wohlerzogenen, bleibt das Wort „Danke“ manchmal im Halse stecken. Nichts zu danken sagen sie, wenn die täglichen Nachrichten auf dem Handy aufploppen: Nichts zu danken für Klimakrise, Krieg und Corona. Dass sie gesund sind, in hoffentlich heilen Familien aufwachsen und zur Schule gehen dürfen, scheint laut Studien immer weniger zu trösten.

Unser Predigttext entstand in einer Zeit, in der das Volk Juda ebenfalls wenig Grund hatte, dankbar zu sein: Viele waren verschuldet, ausgebeutet von einer reichen Oberschicht. Es herrschte Krieg. Die Nachbarstaaten versuchten Jerusalem mit Gewalt in eine antiassyrische Koalition zu zwingen. Die nächste politische Katastrophe zeichnete sich schon ab. Nein, es gab wenig zu danken im 8. Jahrhundert vor Christus. So versucht der Prophet Jesaja auch gar nicht erst, sein Volk zu Dankeshymnen zu zwingen, sondern er prophezeit:

„Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, HERR! Du bist zornig gewesen über mich.
Möge dein Zorn sich abkehren, dass du mich tröstest.
Siehe, Gott ist mein Heil,
ich bin sicher und fürchte mich nicht;
denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm
und ist mein Heil.
Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen
aus den Brunnen des Heils.
Und ihr werdet sagen zu der Zeit:
Danket dem HERRN,
rufet an seinen Namen!
Machet kund unter den Völkern sein Tun,
verkündiget, wie sein Name so hoch ist!
Lobsinget dem HERRN, denn er hat sich herrlich bewiesen.
Solches sei kund in allen Landen!
Jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion;
denn der Heilige Israels ist groß bei dir!
Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, HERR!“

Jesaja lobt den Abend vor dem Morgen. Es wird eine Zeit kommen, sagt er, in der wir wieder dankbar sein können. Und zwar nicht allein dankbar für bessere und friedvollere Zeiten, sondern auch dafür, was gewesen ist. „Ich danke dir, HERR! Du bist zornig gewesen über mich.“ Eine seltsame Formulierung, unverständlich in einer Zeit, in der Krieg und Unrecht herrschen. Nur verständlich in der Rückschau, im Futur 2: Gott wird zornig gewesen sein. Es wird eine Zeit kommen, in der wir auch das Schwere als Teil unseres Lebenswegs akzeptieren können, in dem wir dankbar erkennen, wohin es uns gebracht hat.

Im Jahre 2022 Ukrainerinnen und Ukrainer zu sagen, sie mögen sich bei einem Kriegsverbrecher bedanken, wäre unvorstellbar und zynisch. Krieg ist niemals Grund zur Dankbarkeit, weder ein gewonnener noch ein verlorener Krieg. Vielleicht steht uns nicht zu, Geflüchteten und Kriegswaisen zu verheißen, dass sie eine Zukunft haben, in der sie auf das gegenwärtige Morden zurückschauen voller Schmerz um die Toten, aber vielleicht auch in Dankbarkeit für eigene Bewahrung. Leben mit und nach einem Trauma ist möglich. Das zu sagen, ist vielleicht nur Gottes Sache, nicht unsere.

Der Autor Harald Welzer stellt sich, nachdem er beinah an einem Herzinfarkt gestorben wäre, die Frage: Wer will ich gewesen sein? Der Schluss muss vor dem Ende gedacht werden, schreibt er. (Nachruf auf mich selbst, 2021).

Liebe Gemeinde, was soll auf unserem Grabstein stehen? Mit welcher Haltung wollen wir uns einmal aus unserem Leben verabschieden? Wer wollen wir gewesen sein? Eine Frage, die uns jetzt verändern kann. Die Antwort, die Harald Welzer gibt, meint, ohne Gott auszukommen. Der Prophet Jesaja verheißt: Ihr werdet Gott dankbar gewesen sein.

Das ist eine Provokation in Zeiten, in denen es für manchen wenig zu danken gibt: Welches Leben müssten wir führen, um einmal Gott dankbar sein zu können? Was müssten wir verändern, was müssten wir für uns annehmen, um nicht mit der Lebensnote „ausreichend bis mangelhaft“ abzuschließen?

Was müssten wir tun, damit es am Ende nicht nur geheißen hat: „teilgenommen“? Frieden schließen, mit dem, was wir nicht ändern können. Wege gehen, die aus unseren Sackgassen führen. Sehen, was wir haben. Sich versöhnen, mit denen, die uns kränkten. Grenzen akzeptieren, Grenzen überschreiten. Wer wollen wir gewesen sein? Mit dieser Frage nach dem Futur 2, öffnet sich die Gegenwart. Wir sind ihr nicht ausgeliefert. Wir sind Gott nicht los. Und wir werden auch nicht gottlos gewesen sein. Gott sei Dank! Wir bauen an seiner Zukunft mit, auf dass irgendwann Dank der Welten Lohn ist. Irgendwann... immerhin...

Bis dahin? Gott sei Dank besteht diese Welt nicht nur aus Klimakrise, Krieg und Covid, nicht nur aus orange-braunen Polyesterpullovern und Rosenkohl. Wenn eine Zeit kommt, in der wir dankbar gewesen sind, dann könnte man ja schon mal gucken, was da jetzt schon geht. Wer an Gott glaubt, bekennt ja damit zugleich: Ich verdanke mich nicht mir selbst. Ich bin beschenkt, auch wenn ich es vielleicht gerade nicht sehen kann. Nicht die Glücklichen sind dankbar, heißt es, sondern die Dankbaren glücklich.

Es ist manchmal eine mühsame Kunst, das Danken wieder einzuüben, bevor wir selbst abdanken, nicht weil es unsere Pflicht, sondern unser Glück ist.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören. Amen.

Text: ER Pastor Martin Hofmann (14. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2022, Jes 12,1-6)