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19.10.2024 | Hamburgische Kommende des Johanniterordens

Kein „Ja, aber“ – Gedenken an den 7. Oktober 2023

Am 7. Oktober 2023 wurden durch einen terroristischen Anschlag der Hamas 1139 Israelis ermordet. Man hört in diesem Zusammenhang hin und wieder ein „Ja, aber". Doch kann es hier kein „Ja, aber" geben. Eine Predigt von Pastor Martin Hofmann.

Am 7. Oktober 2023 wurden durch einen terroristischen Anschlag der Hamas 1139 Israelis ermordet.
Hör‘ ich ein „Ja, aber!?“ Ein „Ja, aber“ wie in: „Ja, aber, daran ist der Verbrecher Netanjahu selbst schuld.“ Oder wie in: „Ja, aber, das muss man vor dem Hintergrund der israelischen Siedlungspolitik sehen.“ Oder: „Ja, aber 41.615 Menschen in Gaza starben durch die Waffen Israels.“
Nein. Kein „Ja, aber.“ Am 7. Oktober 2023 wurden durch einen terroristischen Anschlag der Hamas 1139 Israelis ermordet. Frauen wurden zuvor missbraucht. Kinder vor ihren Augen getötet. Kein „Ja, aber.“

In Bethlehem hat der Streetart-Künstler Banksy ein Hotel direkt an der Sperrmauer bauen lassen, das mit dem „hässlichsten Ausblick der Welt“ wirbt. Ans Hotel ist ein Museum angeschlossen, in dem ein für mich unerträgliches Exponat steht: „The scale of justice“, „Die Waage der Gerechtigkeit.“ Eine alte Küchenwaage ist zu sehen. In der einen Waagschale: ein großer Haufen menschlicher Zähne, in der anderen: ein einziger Zahn, der anscheinend so schwer wiegt, dass sich seine Waagschale nach unten neigt. Der Zahnhaufen soll scheinbar für die palästinensischen Opfer am sogenannten Schutzwall stehen. Der eine Zahn für die Opfer auf israelischer Seite.

Ernsthaft? Rechnen wir so Opfer ab? Wer am meisten hat, hat Recht? Tote aufrechnen, das ist die Mathematik der Kriegsherren, das ist der Algorithmus des Krieges: Du hast so und so viele meiner Leute getötet, dann töte ich genauso viele von den deinen. Menschen sind Kinder Gottes. Sie gehören keinem Kriegsherrn. Auf allen Seiten sind sie Männer, Frauen und Kinder, die ihrer Zukunft und ihrer Träume beraubt wurden – durch eine Panzerfaust, durch ein Scharfschützengewehr, durch einen explodierenden Pager. Wir gedenken heute 1139 Israelis. Ohne „Ja, aber“.

Das bedeutet nicht, dass wir die anderen Kriegs- und Terroropfer vergessen, dass wir nicht sehen wollen, wie erfolgreich die Hamas war, indem sie am 7. Oktober ein Feuer entfachte, das sich auf die Nachbarländer ausbreitet, das Tausende von Toten verbrannte, das auch im Westen um sich greift, wenn Studierende gegen Israel skandieren, wenn Deutsche jede Bombe feiern, die den „Eisernen Dom“ durchbricht. Der Staat Israel, der sich nicht erlauben kann, auch nur einen einzigen Krieg zu verlieren, weil er sonst schlichtweg nicht mehr da ist, gerät in moralische Abgründe – Abgründe, die ihm die Terroristen gegraben haben. Es ist schon lange nicht mehr ein Krieg der Waffen, sondern zugleich ein Krieg um Deutungshoheit und moralische Überlegenheit in den Feuilletons und politischen Kommentaren. Herta Müller bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Im Iran gibt es die Redewendung: Israel braucht seine Waffen, um seine Bevölkerung zu schützen. Und die Hamas braucht ihre Bevölkerung, um ihre Waffen zu schützen."

Wir gedenken 1139 Israelis und wir gedenken der 97 Geiseln, die die Hamas immer noch in ihrer Gewalt hat, an Familien, die seit einem Jahr jeden Tag auf Nachrichten hoffen, sich jeden Tag vor diesen fürchten. Es gehört zu der Würde von Opfern, dass sie nicht instrumentalisiert werden, dass ihr Tod, ihr Leiden für sich genommen und gesehen wird, dass sie nicht in für Propaganda und Rachefeldzüge benutzt werden.

Keiner der Anschläge, keine der Raketen seit dem 7. Oktober hat die Toten wieder ins Leben zurückgeholt. Im Gegenteil: Es gab auf beiden Seiten nur noch mehr Familien, die um einen geliebten Menschen trauern mussten. Unzählige Familien. Sicher fällt es leicht, als Unbeteiligter mit kühlem Kopf jedem Rachegedanken abzuschwören. Zugleich erschreckt es, wie viele selbst ernannte Unbeteiligte seit einem Jahr gegen Juden und Jüdinnen hetzen und 
auf sogenannten Pro-Palästina-Demos Raketenangriffe auf Israel feiern. 

Das sind keine Pro-Palästina-Demos: Die überwältigend große Mehrheit der Palästinenserinnen und Palästinenser ist friedliebend und wie die israelische Bevölkerung Leidtragende des menschenverachtenden Terrors der Hamas. 

Dies hier ist kein politischer Kommentar. Dies ist eine Predigt im Namen dessen, der gekreuzigt wurde und von den Toten wieder auferstand. Ein Jude wurde um das Jahr 32 im Namen der römischen Diktatur gekreuzigt. Auf Golgatha betete er: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Das Kreuz auf unserem Altar steht sicher nicht dafür, dass Terroristen wegen angeblicher Unwissenheit nicht zur Verantwortung gezogen werden. Aber es steht für die Würde der Opfer, die gesehen und nicht instrumentalisiert werden wollen. Durch das Kreuz wird das Leiden konkret: Ein Jude wird gefoltert und stirbt schuldlos. Leid ist immer konkret. Darum bleibe ich heute bei den 1139 des 7. Oktober, wissend, dass sie für Unzählige stehen, die auf dieser Welt zumeist namenlos und jenseits der Nachrichten gemordet werden. 

Nochmals: Es fällt leicht, als Unbeteiligter mit kühlem Kopf jedem Rachegedanken abzuschwören. Wäre ich Vater einer vergewaltigten toten Tochter, Bruder eines auf einer Party durch eine Bombe zerfetzten Jungen: Ich hätte keinen kühlen Kopf. Trotzdem sagte der Jude am Kreuz: Vergib. Brich unseren Teufelskreis von Gewalt auf. Wer Opfer würdigt, würdigt zugleich den Schmerz der Überlebenden. Krieg breitet sich dort aus, wo Menschen den Schmerz des anderen nicht sehen wollen, das gilt auch für die Opfer der Shoa und der Nakba. Am Tag nach dem Anschlag der Hamas veröffentlichte der parent circle, eine Initiative israelischer und palästinensischer Eltern, die in den letzten Jahrzehnten ein Kind im Konflikt verloren haben, folgendes Statement: 

„Wir haben zu viel Blutvergießen und Schmerz erlitten, zu viele Tränen geweint. Dies ist ein Moment für alle daran beteiligten Seiten, über die Sinnlosigkeit des anhaltenden Konflikts nachzudenken und die gemeinsame Menschlichkeit zu erkennen, die uns alle verbindet.“ 

Für manchen mag das ein frommer Wunsch sein, der im Rachegeschrei einer zerrissenen Welt untergeht. Der Anschlag, so der israelische Autor Ofer Waldman am 11. Oktober 2023, „… befleckt den gerechten palästinensischen Kampf um eigene Staatlichkeit mit endloser Schande. … Ich versuche, diese Zerrissenheit in mir auszuhalten, aber sie tut genau das. Sie zerreißt. Sie lässt mich nach jedem Interview mit zugeschnürter Kehle zurück, läßt mich nach Luft ringen. Seit Tagen gebe ich Interviews, schreibe Beiträge. Ringe mit den Worten. Schreibe ich wütend, frage ich mich, was ich damit rechtfertige – welche Verantwortung ich mit meinen Worten für die Zivilbevölkerung in Gaza trage.... Schreibe ich zurückhaltend, dann tue ich den Ermordeten, Misshandelten, Verschleppten, den stummen Gesichtern in den Traueranzeigen unrecht.“ 

Als Prediger kenne ich dieses Ringen nach Worten, auch für diese Predigt. Und ich ahne nur, wie der parent circle am Tag nach dem 7. Oktober miteinander um Worte ringen musste, um an der Botschaft des gemeinsamen Schmerzes und der Menschlichkeit festzuhalten. Ich kenne das Ringen nach Worten. Weil es hier nicht das eine, eindeutige Wort gibt, weil ich, einerlei, was ich sage, den Opfern von Terror und Gewalt auf dieser Welt nicht gerecht werde, weil es zu viele „Ja, aber“ gibt, weil es dieser Tage laut wird auf den Straßen, voller antisemitischer oder antimuslimischer Hetze.

Ich will mich auf keine Seite schlagen, ich bleibe heute bei den 1139 toten Israelis und 97 Geiseln. Sie markieren für mich den Abgrund des Zivilisationsbruchs. Wie oft fehlen an diesem Abgrund die Worte. Wie oft die Hoffnung, dass sich aus diesen Trümmern eine neue Welt flicken lässt. Mein Glaube, das ist der Versuch, an dieser Realität nicht irre zu werden, um weiter im Radio Nachrichten hören zu können, weiter um Worte zu ringen, einfachen Antworten zu widerstehen, weiter zu hoffen, zu lieben und zu glauben, dass es einen Gott gibt, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Gott Jeschuas, der die Opfer des Schreckens in seinen Frieden aufnimmt und irgendwann eine neue Welt schafft, in der der Tod nicht mehr herrschen wird. Wenn nicht er: wer sonst? 

Die Mystik kennt einen besonderen Gottesnamen: Gott ist das „stille Geschrei“. Die Anrede findet sich in einem anonym überlieferten Brief aus dem späten Mittelalter, vermutlich von einem Seelsorger an ein Beichtkind in großen Nöten. „Mein Kind, sei geduldig und laß‘ Dich, dieweil man Dir Gott nicht aus dem Grunde Deines Herzens gräbt. O tiefer Schatz, wie wirst Du ausgegraben?“ In aller Not sich Gott lassen, sich Gott nicht aus dem Grunde des Herzens graben lassen, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Gott Jeschuas, der auch in meinem Herzen still schreit und um 1139 Tote trauert. Amen.

Über meinem Arbeitstisch, der im Bunker meines Hauses steht, hängt ein Bild Thomas Braschs, der einst schrieb: „Die Moral wird zum Hobby in einer Welt, in der der Mensch entbehrlich ist.“ Brasch mahnt mich, nach Worten zu ringen. Mit ihm versuche ich nun, am Abgrund des Zivilisationsbruchs stehend, aus Trümmern eine neue Welt zu flicken.

Predigt von Pastor Martin Hofmann zum Gedenken an den 7. Oktober 2023