johanniter.de
08.02.2023 | Hamburgische Kommende des Johanniterordens

Glaube in der Zeit des Krieges

"Es gibt kaum eine schwerere, schärfere, schmerzlichere Prüfung deines Glaubens als die Prüfung während des Krieges" - sagt Prof. Dr. Dmytro Tsolin, Vikar für die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche in der Ukraine. Eine Reflexion.

Reflexion von Prof. Dr. Dmytro Tsolin aus Lwiw, Ukraine, anlässlich eines Gottesdienstes mit Delegierten der Mitgliedskirchen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen Europas (GEKE) in Bad Völsau, Österreich, am 2.12.2022:

Die Gedanken, die ich Ihnen mitteilen will, wurden aus meiner eigenen schmerzhaften Erfahrung des Lebens während des Krieges geboren. Ohne den Anspruch auf Absolutheit und Tiefgang erzähle ich Ihnen einfach diese Gedanken:

Es gibt kaum eine schwerere, schärfere, schmerzlichere Prüfung deines Glaubens als die Prüfung während des Krieges. Sicherlich ist die existenzielle Kraft des religiösen Glaubens täglich und während deines ganzen Lebens einer Prüfung unterworfen. Manchmal mehr, manchmal weniger. Manchmal folgen diese Prüfungen in sehr kurzen Abständen aufeinander, sodass es durch die Kürze der Zeit keinen ausreichenden Raum für Erholung hiervon gibt, und wir bezeichnen eine solche Prüfung in unserer Sprache mit einem Ausdruck der etwa „der schwarze Strich im Leben“ bedeutet. Wenn man seinen Job verliert, wenn jemand, der dir nahesteht, unheilbar krank wird, wenn du selbst von Lebenskrisen heimgesucht wirst, aber die Antwort auf deine inständigen Gebete Gottes Schweigen ist...    

Aber nichts kann mit dem Krieg verglichen werden. Die Intensität des existenziellen Schmerzes erreicht ein fast unüberwindbares Niveau. Der Krieg bedeutet, dass die Anzahl der moralischen Herausforderungen pro Zeiteinheit alle erdenklichen Normen übersteigt. Das ist kein „schwarzer Strich“ im Lebenslauf, das ist ein Abgrund.

Ich erinnere mich an Erfahrungen mit Gebeten, die ohne Antwort geblieben sind. Und ich erinnere mich auch an die Freude des erhörten Flehens. Nirgendwo spürt man die Leere der Abwesenheit Gottes schmerzlicher als im Krieg. Nirgendwo ist man aber auch überwältigter von dem Gefühl von Gottes Gegenwart, als unter diesen schlimmen Umständen. Krieg schärft existentielle Erfahrungen.

Ich erinnere mich an meine Erfahrung mit unbeantworteten Gebeten. Am schmerzhaftesten und denkwürdigsten waren zwei Gelegenheiten, als ich während eines Luftalarms inbrünstig betete: „Oh Herr, mach es, dass keine einzige russische Rakete das Ziel trifft!“ Aber sie hat getroffen… Es war dieser schwarze Tag, an dem mehr als 20 Menschen in Winnyzja getötet wurden... Im zweiten Fall war es der Beschuss einer Flüchtlingskolonne in der Nähe von Zhaporizhzhia ... Oh Gott, warum? Ich habe inbrünstig und aufrichtig gebetet und an Deine Kraft geglaubt?!“

Es gab viele solche schmerzlichen Fälle. Doch trotz des inneren Schmerzes verliere ich nicht den Glauben. Warum? Ich kann es nicht erklären. Vielleicht, weil der Glaube sehr tief verwurzelt ist und mit der einfachen Logik der quälenden und leidvollen Ereignisse nicht zerstört werden kann? Vielleicht erscheint wahrer Glaube so, in der Nähe des zusammenbrechenden Glaubens?

Aber ich erinnere mich auch an das Gegenteil. Ich erinnere mich an die Erfahrungsberichte unserer Soldaten, die um Gebet baten und bezeugten: „Betet für uns! Wir sehen, wie Gott rettet, dass er mit uns ist!“ Diese Worte waren erfüllt von der Erkenntnis eines Überirdischen. Ich erinnere mich an unsere inbrünstigen Gebete für das halb umzingelte Kiew und an die erste bedeutende Niederlage der Russen und ihre Flucht aus dem nördlichen Teil der Ukraine.

Auch solche Fälle gab es viele. Krieg ist, wenn man zwischen freudiger Dankbarkeit gegenüber Gott einerseits und dem brennenden Schmerz der Enttäuschung andererseits lebt. „Herr, wer bist Du? Wie zeigst Du dich in der Welt? Durch übernatürliche Wunder oder durch Mut und Tapferkeit eines Soldaten, der sein Land verteidigt? Durch überirdisches Eingreifen oder indem Du den Anführern unserer Armee Weisheit und dem Volk Mut verliehen hast?“ Krieg ist die Zeit, wenn du Gott bittest, wie Moses einmal bat: „Zeig mir Deine Herrlichkeit.“

Wir treffen uns in einen kleinen Kreis von Menschen, die sich dieselben Fragen stellen und ebenso akut eine Glaubenskrise durchleben. Unser Hauptprinzip ist es, schmerzhafte, „unangenehme“ Glaubensfragen zu äußern und sie nicht zu unterdrücken, nicht in uns selbst zu ersticken. Wir besprechen sie gemeinsam. Was hilft uns, den Glauben nicht zu verlieren, sondern ihn sogar zu stärken? Wir besprechen, wie wir über Christus denken, über die Gegenwart Gottes im menschlichen Leiden. Wenn Gott selbst dies zu unserer Errettung durchmachen musste, muss darin eine universelle Notwendigkeit liegen.

Wir sehen Christus im Krieg. Wir sehen Ihn in den Manifestationen menschlicher Selbstaufopferung, im Altruismus, in der Bereitschaft, sein Leben für andere zu geben. Der Krieg offenbart die göttliche Seite der menschlichen Natur, nicht nur ihre entgegengesetzte, sündige Natur. Wir sehen ihn im Mut unserer Soldaten, in der Hilfe unserer ausländischen Freunde.

Christus ist unter uns!

Prof. Dr. Dmytro Tsolin