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09.08.2015 | Hamburgische Kommende des Johanniterordens

Die Bibel - ein Buch der Migranten und Flüchtlinge

Pastorin Dietlind Jochims, Beauftragte der Nordkirche für Menschenrechte, Flucht und Migration, in einem Gastbeitrag über die Aktualität der Bibel, die voll ist von den Schlagzeilen heutiger Zeitungen, was Flucht und Vertreibung angeht.

Die Bibel ist unser altes wertvolles Buch, voller Gotteserfahrungen, menschlicher Erfahrungen und lehrreicher Erfahrungen. Sie ist auch voll von den Schlagzeilen heutiger Zeitungen, was die Flüchtlingsthematik angeht:

Sie beginnt mit einer Vertreibung, sie erzählt vom Exodus ganzer Völker, von der Migration Einzelner, von den Hoffnungen und der Verzweiflung, sie erzählt von Ertrinkenden und Aufbrechenden und Schleusern.

Von Herrschern, die verfolgen und töten, von Hungersnöten, von Kindern, die unter dem Wahnsinn der Erwachsenen leiden, von Entwurzelten und der manchmal so mühsamen Neubeheimatung.

Sie erzählt von den Schwierigkeiten multikultureller Gemeinschaften und den Auseinandersetzungen der Religionsanhänger beim Versuch, eine gemeinsame Gesellschaft zu leben.

Natürlich erzählt sie davon in anderen Zeiten, Kulturen und Gesellschaften. Wir wissen viel von dem, was historisch, soziologisch und kulturell der Hintergrund der Geschichten und ihre historische Einordnung sind, wer die Autoren und ihre Interessen waren und welchen Impuls diese Geschichten auch hatten und haben sollten. Trotzdem ist die Bibel vor allem ein Buch, das nah und gelebt ist, dessen Geschichten uns im Alltag begleiten, es gibt eine Unmittelbarkeit, die einen aufmerken lässt und verblüfft, gerade, wenn man mit Flüchtlingen zu tun hat, Kirchenasylarbeit macht oder menschenrechtliche Lobbyarbeit betreibt.

Die Bibel erweist sich als sperrig, wenn es darum geht, nationale Interessen zu rechtfertigen, den eigenen bürgerlichen Wohlstand zu heiligen oder gar das eigene Vorankommen als Segen Gottes auszulegen. Sie liegt quer zu aller Rechthaberei – egal von welcher Seite.

Die Bibel ist ein Buch der Migranten und Flüchtlinge, viel mehr als eines derer, die eine Heimat finden oder gefunden haben. Sie bleibt mit den Heimatsuchenden eher auf dem Weg als die Angekommenen in ihrer nationalen Begrenztheit zu rechtfertigen.

Sie ist nicht nur auf dem Weg mit den uns Fremden, auch Gott selbst kommt als Fremder. Als Fremder kommt er zu Abraham, es sind drei Gäste, die ihn aufsuchen. Sie bringen eine Verheißung. Abraham nimmt sie auf, bereitet ein Festmahl und wird dann beschenkt. Obwohl Sarah es nicht fassen kann, dass sie es sein soll, die noch in ihrem Alter einen Sohn gebären wird, ist dies das besondere Gastgeschenk.

Abraham und Sarah brechen auf, allein mit einer Verheißung im Herzen – und migrieren, verlassen den heimatlichen Ort und suchen nach dem gelobten Land. Auf ihrem Weg tun sie das, was Migrantinnen und Migranten bis heute manchmal aus Angst tun: Sie täuschen über ihre Identität. Abraham gibt Sarah als seine Schwester aus, statt sie richtigerweise als seine Ehefrau dem Pharao vorzustellen…

Die drei tausend Jahre alten Geschichten gewinnen immer wieder ihre Aktualität. Joseph wird von seinen Brüdern versklavt und verkauft. Später werden seine Brüder zu den ersten „Wirtschaftsflüchtlingen“, denn der Hunger treibt sie in ein anderes Land, um dort für ihre Familien zu sorgen.

Gott tritt Mose entgegen, der einen politischen Mord begangen hat und ins Land Midian flüchtete , er erscheint als brennender Dornbusch und verheißt die Freiheit von der Sklaverei. Er wandert mit, ist da und zieht mit seinem Volk – ein wandernder Gott. Gott zieht mit als erziehender und leitender, maßregelnder und Maß-schenkender Gott in der Zeit der Wanderung durch die Wüste - eine vierzig Jahre währende Migrationsgeschichte.

Gott ist der Fremde, und er schützt die Fremden in vielen Gesetzestexten. „Mein Vater war ein herumirrender Aramäer“ lautet das älteste Glaubensbekenntnis.

Wandernd ist der Mensch – ein homo migrans. In all den Geboten wird darauf verwiesen, dass jeder sich dieser Wanderung, dieser Herkunft, bewusst zu sein hat. Und der Befreiungstat Gottes aus der Sklaverei, die mündet erst einmal noch vor der Freiheit in einer langen Wanderung.

Den „Angekommen“ und „sesshaft Geworden“ treten die Propheten gegenüber, die immer wieder den Spiegel allen vor Augen halten, die dies vergessen. Gerechtigkeit, Schalom, soll herrschen. Frieden, der alles und alle umfasst, der die Schwachen schützt. Sie erheben ihre Stimme und müssen immer wieder selbst fliehen,

denn sie werden verfolgt –, und doch werden ihre Sätze geachtet, niedergeschrieben, zusammengetragen und gehütet.

Auch im Neuen Testament steht eine Fluchtgeschichte zu Beginn – die Flucht vor Herodes mit dem neugeborenen Kind. Die koptische Kirche gründet sich auf diesen Mythos. Maria und Joseph fliehen mit dem Kind, das schon unbehaust in einem besetzten Land zur Welt, an einem fremden ungastlichen Ort…

Jesus verweist immer wieder darauf, dass er nicht nur für die gekommen ist, die eigentlich sein Volk sind, sondern darüber hinaus sich das Heil Gottes an alle ansagt.

Die Überwindung der eigenen Grenzen – dort hinein  bewegt sich Paulus, ein erster Weltbürger mit römischem Pass, jüdischer Bildung und Herkunft und die Enden der damaligen Welt aufsuchend, um die Botschaft weiter zusagen. Er bildete Gemeinden, die interkulturell waren, Schranken überwanden und Sklaven, Freie, Griechen, Juden, Männer und Frauen umfassten.

Viele dieser biblischen Geschichten lassen sich mit wissenschaftlichen, strukturellen Untersuchungen, soziologischen und historischen Kenntnissen unterfüttern, aufbereiten, analysieren.

Doch im kreativen Umgang mit dieser Tradition, mit Migrantinnen und Migranten, ob regulär oder irregulär, ob Flüchtling oder auf der Suche nach einem besseren Leben für sich und die Seinen, erhalten diese Bibelgeschichten einen neuen und unerhörten Klang. Die biblische Tradition gibt denen Recht, die sich unmittelbar auf sie berufen können. Die sich in ihr erkennen, die plötzlich die drei Gäste bei Abraham entdecken oder mit ihm ihre Herkunft verschweigen, weil sie Angst um sich und ihre Lieben haben.

Sie gibt denen Recht, die fremd sind und Schutz fordern. Sie gibt den Müttern Recht, die trauern, weil ihre Kinder sang- und klanglos vor den europäischen Badestränden ertrinken.

Die Nicht-Angekommenen sind die, die die Bibel neu hören und anders verstehen – nicht als Ruhekissen, sondern als Wanderstab, nicht als Decke für ein unruhiges Gemüt, sondern als Kraft, die Unruhe stiftet und sich nicht zufrieden gibt mit einer Welt, die angeblich schon immer so eingeteilt war und ist und bleiben wird.

Viele Bilder gehen durch meinen Kopf, sie sind gelebte Bibelgeschichten, und wir sind irgendwie mit eingewoben. Wen erkenne ich in der Geschichte der Frau, die so lange nur gebückt gehen konnte, weil so viel Unterdrückung sie niedrig hielt? Wen sehe ich in dem Niedergeschlagenen am Wegesrand?

Wo erkenne ich im Fremden den barmherzigen Samariter?

Die Bibel lässt uns nicht alleine mit dem Fremden. In ihm oder ihr kommt Gott uns immer wieder nah

und ermutigt uns zur Begegnung. Und zeigt, wie heilsam diese Begegnung sein kann. Das Heilige und die Heilung liegen nahe beieinander, und beides brauchen wir. 

Es gilt, nicht den Mut zu verlieren, es gilt, sich immer wieder anstecken zu lassen von den Geschichten der Bibel. Nicht zynisch zu werden angesichts eines oftmals strukturellen Ablehnungsapparats in Deutschlands, nicht bitter zu werden angesichts der vielen Beispiele von offenem Rassismus. Nicht müde zu werden  angesichts des Leids.

Wir bewirken etwas mit der solidarischen Arbeit mit Flüchtlingen. Kirchenasyle zum Beispiel haben in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle Erfolg. Aber wir haben kaum eine Chance, das Danken und den Lobpreis

laut zu lernen. Viel zu oft kommt die nächste ernüchternde Geschichte, von Menschen, die um Hilfe suchen.

Denn anders als in internationalen Schutzabkommen vereinbart, bleiben bei uns die besonders verwundbaren Personen ohne Hilfe, alleinstehende Frauen, Schwangere, Behinderte, Traumatisierte und Jugendliche ohne Begleitung. Sie werden oft nicht vor ihren Asylverfahren in ihrer Bedürftigkeit identifiziert und mit einer besonderen, vor allem rechtlichen Begleitung ausgestattet, sondern in ein Asylverfahren geschubst,

das vielen unverständlich bleibt. Bei 25 Fragen zu der Person und dem Fluchtweg ist es die letzte Frage,

die einen zur Stellungnahme zu den eigenen Asylgründen auffordert – dann, wenn die meisten innerlich schon aufgegeben haben.

Nicht, dass ich meinen würde, die Bibel hätte für alles Lösungen parat. Es gab immer Kämpfe um Boden und Land in dem ersten Buch der Bibel, zwischen Einwandernden und Heimischen. Und die Richtschnur in der Bibel, auf das Wort Gottes zu hören, war oft eine negative Beweisführung. Gerade weil nicht darauf gehört wurde, gingen die Stämme unter.

Man kann die Werte aber umgekehrt auch nicht verraten, indem man wegschaut. Als Christinnen und Christen können wir wenigstens das einbringen, was wir können: Wir können Zeugen sein, wir können es zur Sprache bringen, benennen, aufzeigen. „Und werden deine Zeugen sein,…“ – vielleicht ist das ein Amt, ein Amt in unserer globalisierten Welt, Glaubenszeugen zu sein und Menschenrechtszeugen zugleich. - Amen.

Predigt beim Missionskonvent des Zentrums für Mission und Ökumene (ZMÖ), 18. IV. 2015, Hamburg