Im Notfall
Unsere Rettungskräfte sind bundesweit an 365 Tagen im Jahr und 24 Stunden am Tag im Einsatz. Auch im Bevölkerungsschutz sind die Johanniter mehr denn je unverzichtbar, wenn es darum geht, den Menschen in außergewöhnlichen Notlagen zu helfen.
Der Patient im Mittelpunkt
Die Gründe, warum Menschen den Notruf wählen, sind vielfältig. Immer häufiger wird der Rettungsdienst auch bei nicht lebensbedrohlichen Verletzungen oder Erkrankungen gerufen.
Die Folge: Das System der präklinischen Notfallversorgung wird zunehmend belastet. Die Johanniter-Unfall-Hilfe hat deshalb auf Basis ihrer Erfahrungen aus dem Rettungsdienstalltag konkrete Vorschläge für eine Reform des bestehenden Systems erarbeitet. Im Sommer 2022 überreichte Kevin Grigorian, Geschäftsbereichsleiter Rettung & Medizinische Dienste der Johanniter-Unfall-Hilfe, Gesundheitsminister Dr. Karl Lauterbach das Positionspapier „Der Patient im Mittelpunkt“ mit Reformvorschlägen zur Notfallversorgung.
Drei Fragen an... Kevin Grigorian
Im September 2023 legte die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung Vorschläge zur Neuregelung des Rettungsdienstes vor. Mitte Januar 2024 veröffentlichte das Bundesgesundheitsministerium ein Eckpunktepapier zur Zukunft der Notfallversorgung. Um Patientinnen und Patienten in medizinischen Notfällen künftig schneller und effektiver versorgen zu können, sollen flächendeckend integrierte Notfallzentren (INZ) sowie integrierte Leitstellen (ILS) aufgebaut und der Rettungsdienst gesetzlich umstrukturiert werden. Über diese Vorschläge haben wir mit Kevin Grigorian gesprochen, der neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit in der Bundesgeschäftsstelle der Johanniter gelegentlich als Notfallsanitäter im Einsatz ist.
Warum brauchen wir aus Sicht des Rettungsdienstes eine Reform der Notfallversorgung?
Der Rettungsdienst ist vielerorts an seiner Belastungsgrenze angelangt, da er ein immer verfügbarer Ansprechpartner in der Gesundheitsversorgung ist. Leider wird er oft für nicht lebensbedrohliche Fälle in Anspruch genommen. Die abnehmende Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und die Erwartung einer sofortigen und umfassenden Gesundheitsversorgung führen vor allem in den Großstädten dazu, dass der Rettungsdienst rund um die Uhr im Einsatz ist. Der Rettungsdienst erweist sich als „Lückenbüßer“ für viele Defizite im Gesundheitssystem.
Wie bewerten Sie die Vorschläge des Bundesgesundheitsministers zur Einrichtung von integrierten Leitstellen (ILS)?
Richtig ist, dass wir eine systemische Antwort auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger finden müssen. Das Gesundheitswesen ist komplex. Wer ist wofür zuständig? An wen kann ich mich wenden? Fast alle Menschen brauchen Hilfe, um sich im System zurechtzufinden, besonders wenn es schnell gehen muss. Integrierte Leitstellen können als erste Anlaufstelle für Hilfesuchende dienen. Von dort werden sie an die zuständigen Ansprechpartner weitergeleitet. Die Leistellen müssen in die Lage versetzt werden, selbstständig zu entscheiden, welche Reaktion angemessen ist und wer zu den Hilfesuchenden geschickt wird. Dafür müssen ihnen mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Derzeit können die Disponenten nur Rettungswagen und Notarzteinsatzfahrzeuge einsetzen. In Zukunft soll es auch niedrigschwelligere Transportmöglichkeiten sowie soziale und pflegerische Hilfsangebote geben, um gezielter auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten eingehen zu können.
Was für ein System benötigt eine Hilfsorganisation wie die Johanniter-Unfall-Hilfe, die flächendeckend in Deutschland im Rettungsdienst tätig ist?
Für uns als Hilfsorganisation ist es von entscheidender Bedeutung, dass ein System geschaffen wird, in dem der Patient im Mittelpunkt steht. Kompetenzfragen haben bei der individuellen Versorgung nichts verloren. Vielmehr muss ein System von morgen so aufgestellt sein, dass die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Bedürfnissen zeitnah beim richtigen Ansprechpartner landen und von diesem eine auf sie zugeschnittene Lösung erhalten, wie die ambulante medizinische Versorgung durch die niedergelassenen Ärzte, die pflegerische Unterstützung durch die Pflegedienste oder lebensrettende Maßnahmen durch den Rettungsdienst.
Lotsin für ukrainische Patienten
Amelie Jung* betreut schwer verletzte oder erkrankte Patientinnen und Patienten, die aus der Ukraine nach Deutschland evakuiert wurden. Sie ist eine von neun Johanniter-Patientenlotsinnen, die den häufig traumatisierten Menschen unterstützend zur Seite stehen.
„Ich habe mich immer in der Arbeit mit Geflüchteten gesehen“, sagt Amelie Jung selbstbewusst. Die Wiesbadenerin studierte Wirtschaftspsychologie und Soziale Arbeit, bevor sie sich als Patientenlotsin beworben hat. Seit Mai 2023 betreut sie im Regionalverband Hessen-West verletzte oder erkrankte Menschen aus der Ukraine. Viele kommen aus den Kriegsgebieten, haben Angehörige verloren, sind traumatisiert: „Das ist das Gesicht des Krieges“, sagt die 30-Jährige.
Medizinische Evakuierungen (MEDEVAC) nach dem Kleeblattkonzept
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges wurden mehr als 1.000 Intensivpatienten nach Deutschland evakuiert und mit Hilfe des sogenannten Kleeblattkonzepts bundesweit auf medizinische Einrichtungen verteilt. Aufgrund der Schwere ihrer körperlichen und psychischen Verletzungen sowie der zusätzlichen Belastung durch Sprachbarrieren haben viele von ihnen Schwierigkeiten, sich in Deutschland zurechtzufinden.
Amelie Jung unterstützt diese Menschen dabei, sich in den deutschen Hilfesystemen zurechtzufinden. Dazu gehört die Registrierung bei der Ausländerbehörde, die Kommunikation mit Kliniken sowie die Hilfe bei Anträgen auf Sozialleistungen. „Wir sind das Bindeglied zwischen den Patienten und anderen Parteien.“ Auch wenn eine Patientin nach der Behandlung in die Ukraine zurückkehren möchte, hilft sie, den medizinischen Rücktransport zu organisieren.
Der persönliche Kontakt bedeutet Amelie Jung viel: „Die Begegnungen sind sehr besonders, pur und ungefiltert. Man erlebt das komplette Spektrum an Emotionen: Lachen, Weinen, Wut, aber vor allem Dankbarkeit. Eine Patientin hat mich ihren ‚rettenden Engel‘ genannt.“ Beeindruckend findet sie, welche Zuversicht die Menschen trotz ihrer schrecklichen Erlebnisse ausstrahlen.
Herausforderungen für Patienten und Helfende
Selbstverständlich empfindet sie hin und wieder auch Ohnmacht, wenn sie keine Möglichkeit sieht, Abhilfe zu schaffen, beispielsweise weil aktuell kein barrierefreier Wohnraum verfügbar ist. „Aber meistens bin ich zuversichtlich, weil ich das mir Mögliche unternehme, um diesen Menschen in großer Not zu helfen.“ Wenn sie versehrte Menschen bei Behördengängen oder bei Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln begleitet, erlebt sie deren Probleme unmittelbar. Vieles relativiere sich angesichts solcher Hürden: „Du setzt automatisch das eigene Leben dazu ins Verhältnis und fragst dich, ob das, was dich gerade beschäftigt, wirklich ein Problem ist. Dieser Perspektivwechsel ist für mich eine Bereicherung.“
Wie sie selbst die Eindrücke verarbeitet? „Ich habe mir angewöhnt, den Menschen mit vollstem Mitgefühl zu begegnen, aber auch für privaten Ausgleich zu sorgen.“ Eine klare Trennung zwischen Arbeit und Privatleben ist dafür unerlässlich. Sie betont zudem, wie wichtig der regelmäßige Austausch mit anderen Patientenlotsinnen für sie ist: „Ich fühle mich sehr gut aufgehoben im Team.“
*Das Interview wurde im September 2023 geführt; inzwischen ist Amelie Jung nicht mehr für die Johanniter als Patientenlotsin tätig.
Gut zu wissen
Das Projekt „Ergänzende soziale Betreuung und Rücktransport für MEDEVAC-Patienten aus der Ukraine“ wird von den fünf großen Hilfsorganisationen Malteser, ASB, DLRG und DRK unter Federführung der Johanniter-Unfallhilfe gemeinsam durchgeführt. Seit Februar 2023 wird das Projekt aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gefördert.