Ecuador: “Wir erleben mehr und mehr innerfamiliäre Zersetzung”

Berlin / Quito, 25. November 2020

Anlässlich des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen und der Kampagne gegen geschlechtsspezifische Gewalt möchten wir einen genaueren Blick auf einige unserer Projektländer werfen. Amparo Peñaherrera arbeitet bei unserer ecuadorianischen Partnerorganisation “Fundación de Mujeres de Sucumbíos”. Als Koordinatorin ist sie vor allem für Maßnahmen verantwortlich, die Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt und den Folgen schützen. Im Gespräch mit unserer Landesbüroleiterin Sandra Weppler warnt sie vor den Auswirkungen der derzeitigen Corona-Pandemie, für viele Frauen habe sich die Situation deutlich verschlimmert. 

Amparo Peñaherrera

Der 25. November ist der Internationale Tag für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Wie verbreitet ist geschlechtsspezifische Gewalt in Ecuador?

Die Zahlen aus einer nationalen Umfrage zu Familienbeziehungen und geschlechtsspezifischer Gewalt sind alarmierend. In der Provinz Sucumbíos, in der unser Frauenverband arbeitet, sind laut der INEC-Umfrage sieben von zehn Frauen Überlebende von geschlechtsspezifischer Gewalt. Auf nationaler Ebene ähneln sich die Daten. In unserem Frauenhaus “Casa Amiga” nehmen wir durchschnittlich 120 Personen pro Jahr auf, darunter Kinder, Jugendliche und Frauen. In diesem Jahr gab es einen Anstieg um 20 Prozent.

Geschlechtsspezifische   Gewalt   umfasst   sowohl Gewalt   gegen   eine   Person aufgrund   ihres Geschlechts als auch Gewalt, die unverhältnismäßig häufig Personen eines bestimmten Geschlechts trifft.  Geschlechtsspezifische  Gewalt  kann  körperlicher,  sexueller  oder  psychologischer  Natur oder eine Kombination dieser Formen sein. Dazu zählt u.a. häusliche Gewalt,  sexuelle  Belästigung  sowie Gewalt und  Belästigung  im  Internet. Geschlechtsspezifische  Gewalt  gibt  es  weltweit. Obwohl sowohl Männer als auch Frauen von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind, handelt es  sich  bei  der  Mehrheit  der  Opfer  um  Frauen.

 

Wie helfen Sie den Betroffenen konkret?

Wir bieten zwei Dienste an: Zum Einen das Frauenhaus “Casa Amiga”, welches Frauen, Kindern und Jugendlichen Schutz bietet. Sie wurden meistens Opfer häuslicher Gewalt und mussten aus ihrem Zuhause fliehen, weil ihr Leben in Gefahr war. Diese Situation erfordert stationäre Hilfe. Zum Anderen unterhalten wir das externe Versorgungszentrum "La puerta violeta" (die violette Tür). Hier werden Überlebende von geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Kinder und Jugendliche, die Opfer von Inzest wurden, interdisziplinär betreut. Es erhalten diejenigen Hilfe, die nicht in der “Casa Amiga” untergebracht werden müssen. Ich bin seit mehreren Jahren für die Koordinierung dieser Bereiche zuständig.

 

Frauen demonstrieren für ihr Recht auf Gesundheit
Auch für das Recht auf Gesundheit setzt sich die FMS in der Region ein. Und auch die Frauen selbst unterstützen die Organisation, so zum Beispiel durch Demonstrationen.

 

Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf die Frauen?

Die Situation vieler Frauen hat sich deutlich verschlechtert. Seit Beginn des Lockdowns haben wir eine Kindertagesstätte und eine Ludothek eingerichtet. Diese stehen Kindern und Jugendlichen zur Verfügung, deren Mütter das Frauenhaus bereits verlassen haben, aber nicht auf eigenen Füßen stehen können. Dazu muss man verstehen, dass die meisten Frauen in einer sehr prekären Situation leben. Viele haben die Schule nicht abgeschlossen und sind sehr früh Mütter geworden, oft auch als direkte Folge von sexueller Gewalt. Einen sicheren Arbeitsplatz haben die wenigsten, ihr Einkommen basiert auf dem Verkauf von gebratenen Bananen, Fleisch oder Saft auf der Straße. Während des Lockdowns konnten sie all diese Dinge nicht mehr tun und wir haben Anrufe von Müttern erhalten, die ihre Kinder nicht mehr ernähren konnten. Viele blieben auf ihrer Miete sitzen oder konnten die Kosten für grundlegende Dienstleistungen wie Strom, Gas und Wasser nicht mehr decken. Das Anlegen von Vorräten war gar nicht möglich. Wir unterstützten sie deshalb mit Lebensmittelpaketen.

Wie konnten Sie Ihre Arbeit unter diesen Umständen und den Einschränkungen noch durchführen und die Betroffenen erreichen?

Ich kann wirklich sagen, dass der Lockdown einschneidend für unsere Arbeit war. Eine Unterstützung von lokalen Behörden gab es nicht, stattdessen mussten wir zwei Schichten einführen, um die Nachfrage abzudecken. Teilweise leisteten wir Telearbeit, teilweise führten wir Präsenztreffen im Frauenhaus mit sehr kleinen Gruppen durch. Als die Angst vor der Pandemie immer größer wurde, haben wir für das Frauenhaus und für das Zentrum “La puerta violeta” eine Hotline eingerichtet.Das Schlimmste ist, dass viele Frauen während des Lockdowns gezwungen waren, wieder mit ihren Peinigern zu leben. Ich bin entsetzt darüber, dass wir seit Beginn der Pandemie mehr und mehr eine innerfamiliäre soziale Zersetzung erleben, bei der Kinder und Jugendliche vergewaltigt werden, oder Väter ihre Töchter schwängern.

Wir erleben einen totalen Verlust ethikbasierter Familienstrukturen. Es war für alle eine sehr schwere Zeit.
Amparo Peñaherrera

Sucumbíos ist eine Provinz, die an Kolumbien grenzt und sich im Korridor für Migrationsbewegungen aus Venezuela befindet. Sind Migrantinnen in solch einer Situation noch stärker gefährdet?

Unbedingt, denn es sind Frauen ohne jegliche Unterstützungsnetzwerke. Deshalb bauen wir gemeinsam diese Netzwerke auf. Im Zusammenhang mit der Kampagne zum 25. November haben wir ein Video gedreht, das unsere Arbeit aus den “Stickräumen” in Form von Kunsttherapie zeigt. Dies setzen wir zusammen mit ecuadorianischen Frauen und mit Migrantinnen um, allesamt Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt. Es ist ein Werk des Ausdrucks, der Einforderung von Rechten und des Aufbaus solider Netzwerke.

Hintergrund

Die offiziell anerkannte Fundación de Mujeres de Sucumbíos - FMS (Föderation der Frauen von Sucumbíos) ist ein Zusammenschluss von 105 Frauenorganisationen mit etwa 1.600 Mitgliedern. Sie wurde vor 30 Jahren gegründet, ihr Auftrag ist die Beseitigung geschlechtsspezifischer Gewalt in allen ihren Ausdrucksformen und die Stärkung der sozio-organisatorischen Strukturen ihrer Mitgliedsorganisationen. Mit Hilfe nationaler und internationaler Zuschüsse führt sie eine Vielzahl von Projekten durch, die sich auf die Gleichstellung der Geschlechter und die Förderung der Frauenrechte konzentrieren. Die Johanniter stehen seit 2009 mit FMS in Kontakt und unterstützen Projekte und Aktivitäten, die auf die Stärkung von Organisationen, Gewaltprävention, Gesundheit (inkl. sexuelle und reproduktive Gesundheit) und die Förderung der Menschenrechte abzielen.

Teil Zwei unserer Interview-Reihe

Auch in Kambodscha setzen wir uns zusammen mit unserer Partnerorganisation “Women Peace Makers"  gegen geschlechtsspezifische Gewalt ein. In unserem Interview beschreibt Suyheang Kry, die Leiterin der Organisation, warum geschlechtsspezifische Gewalt in dem asiatischen Land so weit verbreitet ist und was ihre Organisation dagegen tut.

Teil Drei unserer Interview-Reihe

Auch in Uganda setzen wir uns zusammen mit unserer Partnerorganisation “ACORD"  gegen geschlechtsspezifische Gewalt ein. In unserem Interview berichtet Atwiine Muhindi Catherine, Programmkoordinatorin der Organisation, über die besonders schwierige Situation für Geflüchtete, sowie über die Auswirkungen der Corona-Pandemie und des Lockdowns.