„Das Gesundheitssystem in Kolumbien ist an seiner Belastungsgrenze"

Berlin / Bogotá, 20. Mai 2021

In Kolumbien entladen sich seit Wochen gewaltsame Proteste. Unsere Mitarbeiterin Kirsten Wesenberg koordiniert in der Hauptstadt Bogotá die Projektaktivitäten der Johanniter und schildert im Interview, wie stark das Land von Corona, Armut, Gewalt und einer am Limit arbeitenden Gesundheitsversorgung betroffen ist.

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Kirsten Wesenberg während eines Projektbesuchs in der kolumbianischen Stadt Medellín.

In Lateinamerika hat die Corona-Pandemie zahlreiche Länder in ihrer Armutsbekämpfung zurückgeworfen. Vor allem in Kolumbien entladen sich seit vielen Tagen teils gewaltsame Proteste. Warum?

Auslöser der heftigen Protestmärsche, die seit Wochen rund 800 Städte und Gemeinden betreffen, sind die Unzufriedenheit mit der derzeitigen Politik und die anhaltenden sozialen und strukturellen Probleme des Landes. Rund 15 Millionen Menschen protestieren gegen steigende Arbeitslosigkeit und Verarmung. Während auf dem Land vor allem indigene und afrokolumbianische Gemeinden vernachlässigt werden, sind es in den Städten Jugendliche und Frauen, deren Zukunftsperspektiven sich verschlechtern. Eine Zahl macht diese Situation deutlich: Knapp ein Drittel aller kolumbianischen Haushalte hat monatlich umgerechnet rund 140 Euro zur Verfügung, um ihre Grundbedürfnisse zu decken. Aber die Lebenshaltungskosten steigen deutlich. Für viele arbeitslose Menschen ist das längst existenzbedrohend. Die Regierung kündigte in dieser Lage dann eine Steuererhöhung an, weshalb viele nun ihre Wut in den Protesten zum Ausdruck bringen.

Zwei kleine Mädchen stehen in schmutziger Kleidung auf einem Feld. Im Hintergrund ist eine Holzhütte
Vor allem die Menschen auf dem Land leiden häufig unter Armut.

Die Protestwelle wird begleitet von einer neuen Corona-Welle. Wie ist die Situation im Gesundheitssektor?

Das Land befindet sich mit rund 15.000 Neuinfektionen pro Tag in der dritten Corona-Welle. Insgesamt haben sich bisher 3,1 Millionen Menschen infiziert und 81.300 Menschen starben. Bei rund 50 Millionen Einwohnern ist dieser Schnitt deutlich höher als in Deutschland. Im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas steht Kolumbien aber mit seinem Gesundheitssystem, bei Notfallbehandlungen und Impfungen noch vergleichsweise gut da. Ein starker Unterschied wird jedoch zwischen Stadt und Land deutlich. Deshalb planen wir Johanniter zusammen mit lokalen Partnerorganisationen, kollektive Bewältigungs- und Reaktionskapazitäten in marginalisierten Gemeinden aufzubauen, darunter auch bei der Gesundheit.

Während der jüngsten Streiks und Proteste waren zahlreiche Intensivstationen in den Städten unterbesetzt oder es mangelte an Material. In vielen Stadtteilen von Cali oder Bogotá, die besonders heftig von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und staatlichen Sicherheitskräften betroffen waren, richteten die Menschen provisorische Krankenstationen in Wohnungen ein, um die Verwundeten basismedizinisch zu versorgen. Bei nahezu Vollauslastung der Intensivbetten durch Corona und den Folgen des Streiks steht das System an seiner Belastungsgrenze.

Vor wenigen Monaten kündigte die kolumbianische Regierung ein Aufenthaltsrecht für hunderttausende Migranten aus Venezuela an, was für eine fortschrittliche Migrationspolitik steht. Wie ist die Situation der Menschen heute unter Betrachtung der derzeitigen Lage?

Die Registrierung im Rahmen des vorläufigen Schutzgesetzes hat offiziell am 5. Mai gestartet. Seitdem registrieren sich rund 15.000 Menschen pro Tag. Wenn der Prozess abgeschlossen ist, können rund eine Million Venezolanerinnen und Venezolaner, die derzeit keinen legalen Aufenthaltsstatus haben, ein Aufenthaltsrecht von bis zu zehn Jahren erhalten, was ihnen das Arbeiten, die Gesundheitsversorgung oder das Mieten von Wohnungen deutlich erleichtern kann. Allerdings ist nicht absehbar, wie sich die derzeitigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme auf die Umsetzung auswirken.

Fakt ist, dass Ausländerfeindlichkeit, Diskriminierungen und gewalttätige Anfeindungen gegenüber Menschen aus Venezuela zunehmen. Sie werden unter anderem für Kriminalität und zunehmende Gewalt verantwortlich gemacht. Sie sind die Sündenböcke für eine verfahrene Situation in einem Land, das mit der Migration weitgehend allein gelassen wird. Zurecht wurde kritisiert, dass die Krise in Venezuela zur zweitgrößten Massenvertreibung auf der Welt geführt hat, diese aber nur einen Bruchteil der Ressourcen erhalte, die für andere Krisen ähnlichen Ausmaßes aufgewendet wurden.

Dabei hat Kolumbien selbst seit vielen Jahren eine humanitäre Krise zu meistern…

Das kommt dazu. Laut Daten der Vereinten Nationen sind ca. 6,7 Millionen Menschen in Kolumbien auf humanitäre Hilfe angewiesen, von denen 5,6 Millionen einen akuten Bedarf aufweisen. Etwa 3,5 Millionen Menschen sind von schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen, hauptsächlich als Folge von COVID-19 und dessen sozioökonomischen Auswirkungen. Doch nur rund 1.4 Millionen Menschen kann dieses Jahr Hilfe über internationale Hilfemechanismen zugesichert werden. Seit Jahren besteht eine riesige finanzielle Lücke zwischen dem Bedarf und vorhandenen Finanzierungsmöglichkeiten in der humanitären Hilfe. Bei der aktuellen Entwicklung wird sich diese noch vergrößern.

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