Antonia

// Antonia ist als interne Qualitätsbeauftrage im Johanniter-Stift Buseck tätig.

In dem Moment, in dem das Flugzeug abhebt, taucht Antonia in eine andere Welt ein. Der Flugplatz entfernt sich langsam, Häuser, Bäume und Menschen werden immer kleiner und kleiner. Sobald das kleine Kunstflugzeug in der Luft ist, ist Antonia zu 100% fokussiert. Alles, worüber sie gerade noch nachgedacht hat, was sie im Alltag beschäftigt, bleibt am Boden zurück. Wenn Antonia am Steuer ihrer Bellanca sitzt, kann sie abschalten. Jede Faser ihres Körpers steht unter lebendiger Anspannung, ihr Geist ist ganz präsent, in der Luft verliert alles andere an Bedeutung. Denn jeder Flug ist anders, mal ist der Himmel wolkenlos, mal zugezogen, Antonia achtet auf das Wetter, auf die Sichtverhältnisse. Sie liebt diesen Zustand, bei dem der Kopf frei ist von störenden Gedanken, bei dem sie ganz im Hier und Jetzt sein kann.⠀

Seit sechs Jahren ist Antonia Privatpilotin. Mit ihrem eigenen Flugzeug hat sie sich einen großen Traum erfüllt. In ihrer Freizeit kommt sie oft zum Flugplatz. Denn die einmotorige Propellermaschine mit Spornrad ist ein anspruchsvolles Flugzeug. Antonia liebt es, regelmäßig zu fliegen, um nicht aus der Übung zu kommen.⠀

Am liebsten fliegt Antonia in Gesellschaft – dann dürfen Freunde oder Familienmitglieder mit an Bord. Gern starten sie gemeinsam in der Dämmerung und fliegen der Sonne entgegen. Den Sonnenuntergang vom Boden aus zu bestaunen ist eine Sache. Aus der Luft aber ist der Anblick einfach nur überwältigend.⠀

Fliegen ist für Antonia nicht nur ein Hobby. Es ist ihre Leidenschaft. Eine, die sie wegen eines Schicksalsschlags beinahe begraben hätte.⠀

Dass Fliegen kein gewöhnliches Hobby ist, finden auch Antonias Kollegen im Johanniter-Stift Buseck. Die einen bewundern ihren Mut, andere halten sie für etwas unvernünftig. Der Gefahren beim Fliegen ist Antonia sich natürlich bewusst. Vor jedem Start checkt sie das Flugzeug auf technische Mängel. Denn Beschädigungen der Baumwollbespannung können zu Veränderungen der Flugeigenschaft und je nach Größe und Schwere zu Unfällen führen. ⠀

Verantwortung trägt Antonia aber nicht nur am Steuer ihres Flugzeugs, sondern auch an ihrem Arbeitsplatz. Als Qualitätsmanagerin sorgt sie für einen möglichst hohen Qualitätsstandard. Dass sie einmal für verschiedene Abläufe im Haus verantwortlich sein würde, hätte Antonia vor zehn Jahren nicht gedacht. ⠀

Nach dem Abitur fragt sich die junge Frau, wie es beruflich weitergehen soll. Sie macht ein freiwilliges soziales Jahr, sammelt im Anschluss Erfahrungen in einem Wohnheim für blinde Kinder mit Mehrfach- und Schwerstbehinderung. Antonia gefällt die Arbeit mit den Kindern sehr. Doch die Schicksalsschläge, die sie miterlebt, gehen ihr nah. Antonia entschließt sich, etwas anderes auszuprobieren. 2012 beginnt sie ihre Ausbildung zur Pflegefachkraft im Johanniter-Stift Buseck. Die Arbeit macht ihr viel Spaß, es scheint, als hätte sie ihre Berufung gefunden. Doch dann macht ihre Gesundheit ihr einen Strich durch die Rechnung. Sehr früh hat Antonia mehrere Bandscheibenvorfälle, starke Rückenschmerzen. Zu allem Übel stellen die Ärzte bei ihr ein Herzproblem fest. ⠀

Zum Glück findet sie bei ihrem Arbeitgeber Unterstützung. Sie kann sich weiterbilden, übernimmt das Qualitätsmanagement, macht eine Fortbildung zur Praxisanleiterin. Den ehemaligen Kollegen zu sagen, wie sie ihre Arbeitsabläufe verbessern können, fällt ihr am Anfang schwer. Doch Antonia wächst in ihre neue Rolle hinein. Auch privat macht sie einen großen Schritt. Und verwirklicht ihren Traum vom eigenen Flugzeug. Trotz allem, was passiert ist.

Antonia ist elf Jahre alt, als sie zum ersten Mal einen Flugplatz besucht. Sofort ist das Mädchen fasziniert von den Segelflugzeugen, die keinen Motor haben und sich wie durch Zauberei in der Luft halten. Dass sie in Wirklichkeit dank Aerodynamik und Thermik fliegen, lernt sie von Werner, dem Lebensgefährten ihrer Mutter. Werner ist begeisterter Flieger. Er ist es, der Antonia mitnimmt, ihr alles über seine Leidenschaft zeigt. Antonia darf mit Werner oft in verschiedenen Flugzeugen mitfliegen, und sie ist Feuer und Flamme. ⠀

„Irgendwann will ich dich am Steuer sehen!“ sagt Werner zu dem Mädchen. Antonia nimmt ihn beim Wort. Sobald sie 14 ist, will sie einen Flugschein machen. ⠀

Wenn Werner an Streckenflug-Wettbewerben teilnimmt, begleitet ihn oft die ganze Familie zum Flugplatz, um ihm die Daumen zu drücken. Bis zu dem Tag, der alles verändert. ⠀

Wie schon oft zuvor ist Antonias Mutter bei einem Wettbewerb dabei. An diesem Tag macht sie eine Shoppingtour, solange Werner in der Luft ist. Doch dann kommt ein Anruf. Werner geht es nicht gut, er muss umkehren. Der Segelflieger landet, doch kaum ist Werner ausgestiegen, wird er bewusstlos. Ein Herzstillstand. Die Rettungskräfte können ihn reanimieren, doch die Schäden sind zu groß. Werner fällt ins Wachkoma, zwei Jahre später verstirbt er. Für Antonia bricht eine Welt zusammen. Und das Fliegen rückt in weite Ferne. Zu sehr ist es mit dem schlimmen Schicksalsschlag verbunden. ⠀

Es dauert Jahre, bis die alte Leidenschaft wieder aufflackert. Mit 24 fasst Antonia endlich den Entschluss: „Ich will fliegen!“ Und das tut sie dann auch. ⠀

Werners altes Flugzeug ist inzwischen verkauft, steht auf einem Flugplatz in Österreich. Fliegen wird Antonia es nicht, da sie nicht die richtige Lizenz besitzt. Doch einmal hinfahren, sich auf Werners Platz am Steuer setzen, die schönen Erinnerungen aufleben lassen – das hat sie sich ganz fest vorgenommen.