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Ole

// Ole war als Auszubildender im Johanniter-Stift Berlin-Johannisthal tätig.

Das Feuerwehrauto trifft als erstes am Unfallort ein. Ein Motorrad ist mit 100 km/h in ein Auto gerast. Für den Motorradfahrer ist die Lage kritisch. Sobald die Rettungskräfte da sind, muss alles reibungslos laufen.

Keine Viertelstunde zuvor: Oles Pieper schlägt Alarm. Er trägt noch seine Schlappen, als er das Haus verlässt und zum Gerätehaus der Freiwilligen Feuerwehr eilt. Schnell umziehen. Nicht rennen. Wenige Minuten später sitzt er im Auto. Als erstes sperrt er mit seinen Kollegen den Unfallort ab. Ein Rettungshubschrauber ist auf dem Weg, gibt seinen Status durch. Ole kennt alle Aufgaben. Seit er 16 Jahre alt ist, engagiert er sich bei der freiwilligen Feuerwehr in seinem Heimatort. Er hat gelernt, was in einer Notsituation zu tun ist. Heute weist er den Rettungshubschrauber bei der Landung ein. Sobald die Rettungskräfte den verunglückten Fahrer versorgen, hilft er, Wrackteile wegzuräumen. Erst als der Patient aufgeladen ist und der Hubschrauber wieder abhebt, kann Ole kurz durchatmen. Ein nicht ganz so gewöhnlicher Tag im Leben eines Teenagers. 

Es gibt Menschen, die einen Beruf ergreifen. Andere folgen einer Berufung. Wenn Ole anderen Menschen helfen, ihnen beistehen und ein Lächeln in ihre Gesichter zaubern kann, ist er in seinem Element. Ob das im Job oder in seiner Freizeit passiert, spielt für ihn keine Rolle. Wenn Ole nicht gerade mit seinem Orchester auftritt oder bei einem Feuerwehreinsatz volle Präsenz zeigt, nutzt er seine Ferien, um sich zum Rettungssanitäter ausbilden zu lassen. 

Noch weiß der junge Mann nicht genau, für welche Laufbahn er sich nach seiner Ausbildung zum Pflegefachmann entscheiden wird. Vielleicht wird er einen Rettungswagen fahren, in einer Pflegeeinrichtung arbeiten oder auf einer Palliativstation Menschen auf ihrem letzten Weg begleiten. Obwohl er erst 19 Jahre alt ist, hat der junge Mann keine Berührungsängste mit dem Tod. Das hat einen Grund. Vielen Menschen wird ihre eigene Sterblichkeit erst im Alter bewusst. Ole hingegen ist ihr schon sehr früh begegnet. 

Das Krankenhauszimmer ist geschmückt mit Bildern und Basteleien, auf dem Tisch steht eine Tasse, die Ole selbst bemalt hat. Er ist drei Jahre alt. Wie lange er und seine Mutter schon hier im Krankenhaus sind, weiß er nicht. Die Uhren ticken anders, wenn man ein Kind ist. Ole mag das Zimmer, in dem sie wohnen, die Clowns, die manchmal vorbeischauen und ihn zum Lachen bringen. Er mag es, zu basteln und mit den anderen Kindern zu spielen. Für seine Mutter, seine Familie und die Ärzte jedoch ist es eine entscheidende Zeit. Ole hat Leukämie, bekommt eine Chemotherapie. Bald wird er eine Knochenmarkstransplantation brauchen. Ohne es zu wissen, kämpft der kleine Junge um sein Leben. 

Als Ole und sein Zwillingsbruder Ben geboren werden, ist die Welt noch in Ordnung. Doch nach einer Routineuntersuchung sind die Ärzte beunruhigt. Dann kommt die gefürchtete Diagnose: Ole hat das Kostmann-Syndrom, eine seltene Erbkrankheit, die früher nur wenige Kinder überlebt haben. Dank moderner Behandlungsmethoden stehen die Chancen mittlerweile gut, doch die Ärzte warnen seine Eltern. Es kann sein, dass Ole aufgrund der Behandlung an Leukämie erkrankt.

Viele Wochen verbringt Ole mit seiner Mutter in dem Krankenhaus in Hannover. Zuhause ist die Familie enger zusammengerückt. Sein Vater, die Großeltern, Tanten und Onkel kümmern sich um seine Geschwister, alle bangen und hoffen, dass alles gut ausgeht. 

Heute gilt Ole als genesen, hat noch ein ganzes Leben vor sich. Die Tasse, die er als Dreijähriger im Krankenhaus bemalt hat, steht im Küchenschrank, eine Erinnerung an die große Hürde, die er als Kind genommen hat. Wenn Ole heute an diese Zeit zurückdenkt, ist da weder Wehmut noch Selbstmitleid. Er erinnert sich an die Clowns, an das Zimmer mit den bunten Bildern und Basteleien.  

Menschen auf ihrem letzten Weg begleiten, einen letzten Wunsch wahr werden lassen, am Sterbebett eine Hand halten. Das könnte später Oles Beruf sein. Seine Berufung ist es schon heute. 

Ole hat das schwere Akkordeon vor die Brust gespannt, atmet noch einmal durch, dann setzt er an. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Im nächsten Moment tönt die heitere Melodie von Jingle Bells durch den Raum. Die Musik zaubert allen ein Lächeln ins Gesicht, man summt und schunkelt mit. Ein wenig nervös ist Ole schon. Und das, obwohl er seit der 7. Klasse im Orchester spielt und schon unzählige Male auf der Bühne stand. Doch so ein Soloauftritt ist eben was anderes. Und schließlich ist es auch nicht irgendein Tag. Es ist Heiligabend, Ole gibt sein erstes Weihnachtskonzert. Drei Mal wird er heute auftreten, mit dem schimmernden Akkordeon von Wohnbereich zu Wohnbereich des Johanniter-Stifts Berlin-Johannistal gehen und Weihnachtlieder anstimmen. Er wird sich Mühe geben, den richtigen Ton zu treffen und sich riesig freuen, wenn die Bewohnerinnen und Bewohner bei „O du fröhliche“ lauthals mitsingen. 

Ole ist Azubi, besucht die neu gegründete Johanniter-Akademie Berlin/Brandenburg. In den drei Jahren seiner Ausbildung stehen Praktika in unterschiedlichen Einrichtungen auf dem Plan. Das Johanniter-Stift Berlin-Johannistal ist eines davon. Weitere Stationen sind der ambulante Dienst und die Palliativstation eines Partnerkrankenhauses. Wo Ole auch hingeht, seine Neugier eilt ihm voraus. Darum hat er sich für die generalistische Ausbildung entschieden. Später wird er sich aussuchen können, ob er in der Altenpflege, der Krankenpflege oder in der Pädiatrie mit Kindern arbeiten will. 

Die vielseitigen Lerninhalte sind nicht nur für seine spätere Berufslaufbahn von Vorteil. Sie passen auch wie die Faust aufs Auge zu Oles Persönlichkeit. Der junge Mann scheut nie, ins kalte Wasser zu springen. Egal, ob es darum geht, Kolleginnen und Kollegen zur Hand zu gehen oder ein weihnachtliches Solokonzert zu geben. Und auch, wenn Ole das Johanniter-Stift nach einigen Monaten wieder verlassen muss, steht fest: Er und sein Akkordeon wollen auch nächstes Jahr zurückkehren, um allen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.