Anna

// Anna absolviert die Generalistische Ausbildung im Johanniter-Haus Weschnitztal.

Vor dem imposanten Gebäude der Pomerellischen Philharmonie hält ein Taxi. Anna steigt mit ihrem runden Babybauch aus, beeilt sich die Treppen hoch zum Eingang. Anstelle eines Abendkleides trägt sie einen Morgenmantel, den sie über ihr Nachthemd geworfen hat. Gerade lag die junge Frau noch in einem Krankenhausbett. Ihre Tochter ist dabei, sich auf den Weg ins Leben zu machen. Jeden Moment könnte es so weit sein. Dass Anna heute ins Konzert fährt, war nicht geplant. Doch sie konnte einfach nicht anders. 

Drinnen grüßt Anna die Mitarbeitenden, steigt die Treppe hoch, nimmt in einer der Logen Platz, weit oben unterm Dach, wo die Lichttechniker sich für die Vorführung bereit machen. Gleich wird das Orchester die Bühne betreten. Mit dabei: Annas Vater. Er sitzt am Schlagzeug, spielt heute den Bolero von Maurice Ravel. Eine viertel Stunde lang wird sein Spiel den Herzschlag des Stückes vorgeben. Gebannt lauscht Anna der wiederkehrenden Melodie, die Mal um Mal an Intensität gewinnt. Als das Konzert vorbei ist, klatscht und jubelt sie, so laut sie kann. 

Anna hat ihre Kindheit in diesem Konzertsaal verbracht. Jeden Freitag begleitete sie ihren Papa, lauschte der Musik und war stolz auf ihn. Diesmal ist sie überglücklich, es doch noch zur Aufführung geschafft zu haben. 

Ihr Vater ist schon immer ihr größtes Vorbild gewesen. Sein Leben ist bestimmt von Liebe – zur Musik, zu seinem Beruf, zu seiner Familie. Zu Anna. Dass sie nicht seine leibliche Tochter ist, hat noch nie eine Rolle gespielt. Sie sind eine Familie. Und diese soll schon bald wachsen.

Nach dem Konzert fährt Anna zurück ins Krankenhaus, legt sich wieder ins Bett. Am nächsten Tag wird ihre Tochter Nicole geboren. Einen besseren Auftakt ins Leben hätte sie wohl kaum haben können!  

In der dunkelsten Stunde noch Licht zu sehen, ist eine Gabe. Anna hat diese Gabe, und sie teilt sie mit allen, denen sie begegnet.

Anna weiß: Es ist einfach, dankbar zu sein, wenn alles gut ist. Wenn man Menschen um sich hat, die einen lieben, wenn man gesund ist und es einem an nichts fehlt. Anna gehört aber zu den Menschen, die es schaffen, auch dann dankbar und optimistisch zu sein, wenn das Leben sich von einer weniger schönen Seite zeigt. 

Es ist 2020. Anna könnte nicht glücklicher sein. Seit drei Jahren arbeitet sie im Johanniter-Haus Weschnitztal. Vom ersten Tag an ist sie Feuer und Flamme für den Job. Sie liebt es einfach, sich um die Bewohnerinnen und Bewohner zu kümmern, ihnen zuzuhören, mehr über ihr Leben zu erfahren. Jeden Morgen fährt sie voller Vorfreude zur Arbeit – dankbar, anderen Menschen eine Stütze sein zu können.

Bis zu diesem Tag im Februar, der alles verändert. Völlig unerwartet erleidet Anna einen Schlaganfall. Im Krankenhaus stellen die Ärzte fest, dass sie einen Herzfehler hat. Anna muss operiert werden. Ihre rechte Seite ist gelähmt, es fällt ihr schwer, zu sprechen. Im Krankenhausbett trifft sie eine Entscheidung. Sie wird nicht aufgeben. Sie wird stark sein und alles dafür tun, um wieder auf die Beine zu kommen. 

Nur wenige Monate später steht Anna wieder in ihrem Wohnbereich, hält eine Hand, hört zu, hilft, wo sie kann. Sie hat sich zurück ins Leben gekämpft. Und an Stelle von Selbstmitleid ist da Dankbarkeit. Dafür, dass sie nun weiß, wie es ist, auf der anderen Seite zu sein. Hilfe zu brauchen. Sich auf andere verlassen zu müssen. Jetzt, sagt sich Anna, kann sie noch besser helfen. Kann jenen, die nichts sagen können, besser ansehen, was sie brauchen. Jenen, die verzweifelt sind, mit noch mehr Geduld und Sanftheit begegnen. 

In der dunkelsten Stunde noch Licht zu sehen, ist eine Gabe. Anna hat diese Gabe, und sie teilt sie mit allen, denen sie begegnet. 

„Anna, wenn du da bist, ist es, als würde an einem bewölkten Tag die Sonne scheinen!“ Der Bewohnerin fällt es schwer, die Worte hervorzubringen. Dass sie sich so viel Mühe gibt, bedeutet Anna sehr viel. Egal, wie schlecht es jemandem auch gehen mag – Anna versucht immer, den Menschen hinter der Krankheit zu sehen. Es geht um Würde, darum, echtes Verständnis aufzubringen. Anna weiß das, denn sie hat schon früh miterlebt, was eine Krankheit anrichten kann.

Als Anna noch ein Teenager ist, erkrankt ihre Großmutter an Demenz. Das Mädchen kümmert sich, pflegt die Oma, ist für sie da. Sie will die Liebe und Fürsorge, die sie als Kind erfahren hat, zurückgeben. Auch wenn es nicht leicht ist, spürt sie, dass irgendwo jenseits der Krankheit noch immer die geliebte Großmutter ist. 

Bis heute ist es eine von Annas größten Stärken, hinter die Fassade zu blicken. Schon immer hat sie sich für Geschichte interessiert. Dafür, was im zweiten Weltkrieg passiert ist. Ihr Großvater überlebte das Konzentrationslager Auschwitz. Oft erzählte er davon, was sich dort Schreckliches zugetragen hatte. Anna gräbt tiefer, liest Geschichtsbücher und Erfahrungsberichte. Sie weiß: Nur, wer die Vergangenheit kennt, versteht die Gegenwart. Aus diesem Verständnis erwächst Mitgefühl. Es begleitet Anna jeden Tag, hilft ihr, zu verstehen, was in den Menschen, um die sie sich kümmert, vor sich geht. 

„Finde einen Beruf, den du liebst, und du wirst keinen Tag mehr arbeiten müssen“ heißt es. So war es für Annas Vater, wenn er auf der Bühne der Philharmonie Schlagzeug spielte. Und so ist es für Anna, wenn sie das Johanniter-Haus Weschnitztal betritt, mit Dankbarkeit und Freude und Sonne im Herzen.