Unsere Pflegefachkraft

// Ayten arbeitet als Pflegefachkraft im Johanniter-Haus Lorsch.

„Als ich zwei Jahre alt war, ist in meiner Heimat ein Krieg ausgebrochen. Als ich dann fünf war, ist meine Familie aus Bergkarabach im Südkaukasus nach Deutschland gekommen. Es war zu gefährlich, um dort zu bleiben, also flohen meine Eltern mit mir und meinem Bruder zunächst in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku. Doch es war wirklich nicht einfach, sich dort über Wasser zu halten. In Bergkarabach hatte mein Vater ein eigenes Business, er besaß eine Tankstelle und eine Metzgerei, meine Mutter arbeitete in einer Bibliothek. Durch die Flucht hatten sie alles verloren. Zum Glück konnten wir zwei Jahre später in Deutschland Asyl beantragen und auch dauerhaft hier bleiben. 

Wir kamen nach Berlin und lebten am Anfang in einem Heim für Asylbewerber in Wilmersdorf. In diesem Bezirk gab es damals nicht viele Menschen mit Migrationshintergrund. In meiner Klasse war ich das einzige Kind, das kein Deutsch konnte. Die ersten Jahre in der Grundschule waren darum wirklich nicht einfach für mich. Die anderen Kinder haben sich über mich lustig gemacht, niemand wollte mit mir befreundet sein. Es hat lange gedauert, bis ich endlich Freunde finden und Schritt für Schritt mein Selbstbewusstsein zurückerlangen konnte. 

Heute bin ich dankbar, dass meine Eltern diesen Schritt gewagt haben und nach Deutschland gekommen sind. Meine Mutter war damals so alt wie ich heute. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste mit meinen Kindern in ein fremdes Land gehen, ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse – das würde ich nicht schaffen! Trotzdem vermisse ich meine Heimat und bin auch oft in Baku, wo ich Familie und Freunde besuche. Und ich hoffe, dass ich irgendwann auch zurück nach Bergkarabach kann. Derzeit geht das noch nicht, doch vielleicht wird es möglich sein, wenn ich irgendwann in Rente gehe. Dann möchte ich unbedingt zurück.“ 

„Viele Menschen wundern sich, wenn sie erfahren, dass ich Gebärdensprache beherrsche. Das liegt daran, dass meine Großeltern beide gehörlos waren."

„Viele Menschen wundern sich, wenn sie erfahren, dass ich Gebärdensprache beherrsche. Das liegt daran, dass meine Großeltern beide gehörlos waren. Als ich 18 war, zogen wir von Berlin nach Bensheim, wo die Großeltern damals lebten. Ihr Gesundheitszustand hatte sich verschlechtert und sie bekamen erste Anzeichen einer Demenzerkrankung. Mein Vater wollte seinen Bruder dabei unterstützen, sich um sie zu kümmern. Ich habe damals viel Zeit mit meinen Großeltern verbracht. So habe ich die Gebärdensprache gelernt. Als es ihnen immer schlechter ging, habe ich sie auch gepflegt. Sie haben damals nach und nach verlernt, mit uns zu kommunizieren. Ich wollte unbedingt verstehen, wie das sein kann. Was haben wir Menschen denn, außer, dass wir miteinander reden und uns verständigen können? Mich hat das sehr beschäftigt. Diese Erfahrung war wohl der Grundstein für meine spätere Berufswahl. Doch bis ich meine Ausbildung zur Altenpflegerin in der Tasche hatte, sollte es noch etwas dauern. 

Mit 18 habe ich leider die Schule abgebrochen. Etwa zur selben Zeit habe ich geheiratet und bin mit 20 zum ersten Mal Mama geworden. Doch als meine Tochter auf der Welt war, kam ich ins Grübeln. Ich wollte nicht einfach nur Hausfrau sein – obwohl ‚einfach nur Hausfrau‘ natürlich auch schon ein anspruchsvoller Job ist. Ich habe dann beschlossen, meinen Schulabschluss nachzuholen, habe erst die Hauptschule, dann die Realschule beendet. In der Zwischenzeit bin ich noch zweimal Mama geworden. Rückblickend sage ich immer: ‚Die Schule hat mich nur Schwanger erlebt!‘ Aber es ging trotzdem, irgendwie. Meine Großeltern waren mittlerweile verstorben und mir fehlte der Umgang mit älteren Menschen. Also entschloss ich mich, eine Ausbildung zur Altenpflegerin zu machen. Ich bin froh, dass ich heute ein Vorbild für meine Tochter sein kann. Ich will, dass sie weiß, dass wir Frauen stark sind, dass wir alles schaffen und unabhängig sein können!“ 

„‚Meinst du, der Fernseher hält es aus, wenn wir draufklettern?‘ ‚Ich glaube, er hält nur einen von uns aus!“ So reden meine drei Kinder, während sie den Fernseher betrachten, der an der Wand befestigt ist. Bei uns ist wirklich immer was los! Sie streiten, sie raufen – wie Brüder es halt so machen. Als alleinerziehende Mama kann das ganz schön anstrengend sein. 

Zuletzt habe ich in einem Krankenhaus gearbeitet. Vollzeitmama plus Vollzeitjob – das war mir irgendwann zu viel. Eine Freundin empfahl mir das Johanniter-Haus Lorsch. Jetzt habe ich Dienstzeiten, die sich mit dem Familienleben vereinbaren lassen. Und zum Glück wohnen meine Eltern im selben Haus und können mich unterstützen. 

Es ist mir wichtig, dass die Kinder wissen, wo ihre Wurzeln sind. Darum habe ich darauf bestanden, dass wir gemeinsam nach Aserbaidschan fahren. Erst waren sie nicht sehr begeistert – denn sie sprechen leider kaum Aserbaidschanisch. Doch sie haben sich was einfallen lassen. Um sich mit den anderen Kindern zu verständigen, haben sie den Google Übersetzer benutzt. Und dann fanden sie es doch nicht mehr so blöd. Als wir das zweite Mal hinfuhren, haben sie sogar den ein oder anderen Satz sagen können und brauchten den Übersetzer nicht mehr. 

Ich bin sehr gern in Baku, es ist eine Stadt, die abends zum Leben erwacht, alles funkelt und leuchtet. Auch gibt es unglaublich viele Dinge, die man mit Kindern unternehmen kann. Und doch würde ich nicht gern dort leben. Das System dort ist leider auf Vitamin B und Gefälligkeiten aufgebaut. Egal, wie schlau meine Kinder sind, um sie dort auf eine gute Schule zu schicken, müsste man einen Haufen Geld aufbringen. 

Meine Tochter ist mittlerweile 12 und geht aufs Gymnasium. Ihren Erfolg kann sie sich fair erarbeiten. ‚Wir sind nur für euch Kinder nach Deutschland gekommen!‘ haben meine Eltern immer gesagt. Es war sicherlich die richtige Entscheidung!“ 

 

© Alexandra Friedmann