25.09.2024 | Johanniter-Schwesternschaft e.V.

Von der Selbstverständlichkeit des Lebens

Foto: Johanniter-Schwesternschaft e.V.

Liebe Johanniterschwestern und Johanniter,

wer von uns kennt nicht den „90. Geburtstag von Miss Sofie“. Ohne „Dinner for one“ kann das neue Jahr nicht beginnen. Peter Frankenfeld hat diesen Sketch 1962 in Blackpool gesehen und war so begeistert, dass er ihn nach Deutschland brachte. Am 8. März 1963 lief er zum ersten Mal bei uns im Fernsehen. In England ein Flop, in Deutschland seit Jahrzehnten ein großer Erfolg und ist zu Sylvester fester Bestandteil des Abendprogramms.

Zwei Sätze bewegen mich immer wieder besonders, so unscheinbar, aber letztlich für unser Leben sehr kennzeichnend. James fragt Miss Sofie: „Soll das Abendessen wie letztes Jahr verlaufen.“ Miss Sofie gibt zu Antwort: „Wie jedes Jahr.“ Wie selbstverständlich, und das bei neunzig Lebensjahren, soll dieses „besondere“ Abendessen wie gewohnt zelebriert werden. Und dann bleibe ich beim berühmten „wie jedes Jahr“ hängen. Läuft unser Alltag letztlich nicht in großen Zügen so ab: wie gewohnt, wie selbstverständlich. Wie selbstverständlich scheint es für uns, dass wir morgens aufstehen, uns für den Tag fertigmachen, unseren Aufgaben nachgehen, um am Ende des Tages wie gewohnt, wie selbstverständlich zu Bett gehen. Dann kommt bei mir die Frage auf: Ist das so selbstverständlich? 

Meine tägliche Arbeit ruft mir in Erinnerung: Es ist nicht selbstverständlich! Die Patientinnen und Patienten rufen mir, rufen jeden Mitarbeitenden in unseren Einrichtungen in Erinnerung, dass es schlagartig alles ganz anders laufen könnte. Mein Körper gibt mir lange Zeit die „Illusion“, dass ich Herr im Körper bin und daher, wie selbstverständlich, meiner täglichen Arbeit, meinem Leben in gewohnter Weise nachgehen kann. Und dann ereignet sich der berühmte Augenaufschlag, nicht mehr, nicht weniger, der zeigt, was Leben auch heißen kann: verletzbar, zerbrechlich. Gerade in diesen Augenblicken, wenn unwiederbringlich etwas verloren geht, wird uns dies klar vor Augen geführt, besonders in den Grenzsituationen des Lebens: Krankheit und Trauer. Alles wird anders, aber es hat immer noch mit meinem Leben zu tun. Und der Schmerz darüber geht tief in die Seele; wird sogar zum Abgrund.

Hans-Georg Gadamer hat dies so beschrieben: „Das Selbstverständliche ist das Rätselhafte.“ Für ihn war damit eine Entfremdung zum Lebensbezug verbunden. Und genau das wird ja bei einer Erkrankung, bei Trauer empfunden: ich werde mir selbst fremd. Wer bin ich nun eigentlich? Bin ich der, der mit Heiterkeit, Gelassenheit und Tatkraft die Selbstverständlichkeit des Alltags gestaltet - wie jeden Tag? Oder bin ich der, der ängstlich und unsicher auf das schaut, was der Augenblick mir bringen könnte? Bonhoeffer hat in seinem beeindruckenden Gedicht „Wer bin ich“ von 1944 auf dem Punkt gebracht: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.“

So nehme ich als Seelsorger sehr häufig die Lebenssituationen unserer „Herren Kranken“ war. Und mir geht es in den Situationen der Enttäuschung, der Trauer ebenso. Nichts ist selbstverständlich wird mir nur zu bewusst. Und dann gibt Dietrich Bonhoeffer eine Antwort auf diese bohrende Frage, die ich aus der Kraft des Glaubens leben kann: „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.“ Dem Rätselhaften des Selbstverständlichen darf ich in diesen Momenten des Lebens das Geheimnis des Glaubens, meines Glaubens als tiefe Gewissheit mir in Erinnerung rufen. Mein Leben wird von der Liebe Gottes angesprochen in Jesus Christus. Und diese selbst erfahrene Liebe möchte ich gerne weitergeben den Menschen, die als mein Nächster, meine Nächste sein Antlitz trägt: Aus Liebe zum Leben. So danke ich Gott für die tiefste Erfahrung, die ich in meinem Leben machen kann: er ist an unserer Seite auf all unseren Wegen, auch wenn das Leben, wenn ich mir selbst zur Frage werde.

Meine Mutter sagte mir den Satz: „Nichts ist selbstverständlich, als dass es des Dankes nicht wert wäre.“ Gerade dann, wenn mir die Dinge zu selbstverständlich werden, dann denke ich dankbar an diesen Satz.

Bernd Kollmetz, Seelsorger in den Johanniter-Ordenshäusern