30.03.2022 | Johanniter-Krankenhaus Treuenbrietzen

STERN-Online-Interview: Umgang mit Angst und Sorgen in unsicheren Zeiten

Psychiater und Chefarzt Dr. Eike Ahlers vom Johanniter-Krankenhaus Treuenbrietzen gab ein Interview für STERN-Online. Eine Zusammenfassung.

Im Gespräch erklärt der Mediziner, warum Sorgen und Ängste in Zusammenhang mit dem aktuellen Krieg normal sind, warum es wichtig ist, diese auch wahrzunehmen und zu reflektieren und welche weiteren Maßnahmen im Alltag helfen.

Seit Wochen sehen wir Aufnahmen aus dem ukrainischen Kriegsgebiet - zerbombte Häuser, Zerstörung und Tod. Das löst in uns vielfältige Emotionen aus, die sich durchaus zwischen den Generationen mit ihren unterschiedlichen Lebenserfahrungen unterscheiden können. Sie reichen von Mitgefühl über das Leiden der Menschen vor Ort, Hilflosigkeit und Wut, Trauer bis zu Ängsten vor immer weiteren militärischen Eskalationen bis hin zu einem dritten Weltkrieg.

Unsicherheit ist ein Nährboden für Angst

"Angst ist eine natürliche Reaktion auf alles, was uns existenzbedrohend erscheint und Krieg ist per se eine Bedrohung, die viele Menschen stark verunsichert", sagt Dr. Eike Ahlers, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Johanniter-Krankenhaus Treuenbrietzen. "Hinzu kommt, dass uns dieser Konflikt besonders nah erscheint - durch die geografische Lage, die Vielzahl an Nachrichten oder die Drohungen, die sich an westliche Staaten richten."

„Auch wenn Menschen vielleicht nicht direkt von den Kriegshandlungen betroffen sind, haben Sorgen und Ängste in Zusammenhang mit dem aktuellen Krieg einen großen rationalen Anteil“, sagt der Mediziner. Er empfiehlt, diese Gefühle nicht auszublenden oder zu verdrängen, sondern sie wahrzunehmen. "Das ist zunächst der größte und auch wichtigste Schritt, um mit diesen Gefühlen umzugehen. Dass man sich seiner Angst bewusst wird." Dr. Ahlers ordnet das als eine normale Reaktion auf einen bestimmten Auslöser ein, in diesem Fall Krieg. „Wie stark jemand auf einen solchen Auslöser reagiert, ist von Person zu Person unterschiedlich. Jemand, der die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl in den Achtzigern miterlebt hat, reagiert wahrscheinlich eher mit Angst auf die Nachricht, dass das ehemalige AKW beschossen wurde, als jemand, dem Tschernobyl kein Begriff ist."

„Bereits die Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre in der Corona-Pandemie sind für viele Menschen belastend gewesen, nicht nur gesundheitlich, sondern auch sozial oder wirtschaftlich. Zu der Pandemiesituation, die weiterhin anhält, gesellt sich nun der Krieg, was zusätzliche Unsicherheit oder Sorgen auslösen kann. Nicht jeder, der in einer solchen Situation steckt, würde sagen: 'Ja, ich habe Angst'", sagt Dr. Ahlers. „Bei einigen Personen stehen Stresssymptome im Vordergrund. Sie schlafen beispielsweise schlecht, grübeln, sind womöglich reizbarer als sonst, fühlen sich ungeduldig und unruhig, haben vielleicht sogar weniger Appetit. Das alles sind Hinweise auf ein 'Gestresst-Sein', dem auch ein Angstgefühl zugrunde liegen kann."

Er betont, dass Ängste und Sorgen in bestimmten, besonders herausfordernden Phasen des Lebens ganz normal sind, ein Stück weit dazugehören. "Und es gibt viele Dinge, die Betroffene im Alltag selbst tun können, um sich nicht von ihnen überwältigen zu lassen."

7 Schritte, um einen guten Umgang mit der Angst zu finden

Wahrnehmung: "Erkennen Sie an, dass Sie ängstlich oder gestresst sind aufgrund von Faktoren, die Sie vielleicht selbst nicht in der Hand haben. Versuchen Sie, die Gefühle und den Zustand zu akzeptieren. Das verschafft Ihnen Ruhe, Kraft und Fokus, um der Situation zu begegnen. Sprechen Sie mit Menschen, denen Sie vertrauen. Erzählen Sie ihnen, wie es Ihnen angesichts der aktuellen Lage geht. Fragen Sie, wie es Ihrem Gegenüber geht."

Reflexion: "Hinterfragen Sie Ihre Ängste. Welche sind für Sie wirklich relevant? Welche sind vielleicht übersteigert? Müssen Sie im Hier und Jetzt der Angst folgen oder ist es vielleicht besser, sich zu beruhigen und das Gefühl zu einem späteren Zeitpunkt zu reflektieren? Fragen Sie sich: Was können Sie tun, was möchten Sie tun?"

Aktiv werden: "Gehen Sie Dingen nach, die Ihnen dabei helfen, das Gefühl von Ohnmacht abzulegen. Sie können beispielsweise spenden oder sich ehrenamtlich für Geflüchtete engagieren."

Ablenkung: "Suchen Sie sich Aktivitäten, die Ihnen dabei helfen, Stress und Angst zu begegnen. Das kann Sport sein. Yoga. Spazierengehen oder Treffen mit Freunden. Erlaubt ist, was Ihnen guttut und Ihre Widerstandskraft erhöht. Sollten Sie dabei das Gefühl haben, dass sich gewisse Dinge falsch anfühlen, etwa Spaß zu haben, fragen Sie sich: Was von diesem Gefühl möchten Sie annehmen? Was davon ist übersteigert und nutzt Ihnen in der aktuellen Lage nicht?"

Achtsam im Alltag sein: "Bereits kleine Maßnahmen können dabei helfen, Stressreaktionen im Körper einzufangen: Lockern Sie Ihre Muskeln, wenn Sie das Gefühl, dass Sie verspannt sind, recken und strecken Sie sich oder atmen Sie bewusst einmal tief ein und aus."

Bewusster Medienkonsum: "Achten Sie auf Ihren Medien- und Social-Media-Konsum. Informieren Sie sich in einem Maße, das Ihnen guttut und überlegen Sie, welche Quellen Sie nutzen möchten. Nehmen Sie sich eine Auszeit, wann immer Ihnen danach ist.“

Flexibel bleiben: "Die übergeordnete Frage sollte sein: Was brauchen Sie, um ein Gefühl von Sicherheit zu entwickeln? Ihre Bedürfnisse können sich von Tag zu Tag ändern. Erlauben Sie sich Anpassungen."

Hilfe beanspruchen

„Maßnahmen wie diese helfen vielen Menschen, einen guten Umgang mit ihren Sorgen in der aktuellen Lage zu finden. Wenn sich die Angst jedoch gewissermaßen verselbstständigt, nicht mehr an den ursprünglichen Auslöser gebunden ist, die Angstgefühle den gesamten Tag über anhalten, Betroffene immer stärker im Alltag einschränken und eine ‚Angst vor der Angst' entsteht, ist es sinnvoll, auch professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.“

Psychosoziale Krisenberatung

Deswegen bietet die Fachklinik seit April 2020 – mit Beginn der Corona-Pandemie – eine Psychosoziale Krisenberatung für Menschen in Krisensituationen an. Die Gespräche können nach Vereinbarung telefonisch oder persönlich stattfinden. Details sind unter https://www.johanniter.de/johanniter-kliniken/johanniter-krankenhaus-treuenbrietzen/medizin-pflege/fachklinik-fuer-psychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik/ zu finden.

 

Das vollständige Interview vom 23.03.2022 ist hier frei zugänglich für Stern-Abonnenten:

Zum gesamten Interview