Behandlung eines ukrainischen Soldaten
Das, was Alexander (21) in den letzten Wochen und Monaten erlebt hat, mag man sich kaum vorstellen: Er war ein ganz normaler junger Mann, lebte in der Ukraine und war Student in Charkiw.
Heute ist die Johanniter Klinik am Rombergpark das „Zuhause“ von Alexander. Am 8. April zerfetzten in der Nähe von Lugansk Granatsplitter die Gefäßnerven der Beine des 21-Jährigen. Seine Kameraden konnten ihm zu Hilfe eilen, ihn aus der Schusslinie holen und einen lebensrettenden Druckverband anlegen.
Mit der Luftwaffe nach Deutschland
Im westukrainischen Lwiw wurde er operiert und schließlich mit anderen Soldaten von der Luftwaffe nach Deutschland geflogen. Schließlich landete er im Bochumer St. Josef Hospital. Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt kam Alexander nach Dortmund, nach Brünninghausen in die Johanniter-Reha-Klinik.
Ein Zimmer im vierten Stock mit Blick auf den Rombergpark, ein Bett, Krücken, eine Gehhilfe, Orthesen, zwei Drei-Kilo-Hanteln im Regal, daneben eine Bibel, die zur Ausstattung des Zimmers gehört. Persönliche Gegenstände gibt es hier keine – wie auch, wenn ein Mensch mit zerschundenen Beinen schwer verletzt aus der Ukraine ausgeflogen wird?
Und doch ist diese Klinik für Alexander ein Glücksfall: Zum einen aus rein medizinischer Sicht, weil es hier die orthopädische und die neurologische Fachausrichtung gibt. Der junge Ukrainer braucht beides für seine Genesung. Und zum anderen menschlich, weil es hier mit dem leitenden Arzt der Orthopädie, Dr. Felix Dudnik, einen Menschen gibt, mit dem er sich in seiner Muttersprache unterhalten kann.
Über seine Beine, aber beispielsweise auch über Charkiw, weil es die Geburtsstadt Dudniks ist. Medizin für die Seele sozusagen. Felix Dudniks Frau lebt auch in Dortmund, aber seine Schwiegermutter in Charkiw. Mehrere Telefonate am Tag sollen die Sorgen auf beiden Seiten verdrängen helfen.
Der Kontakt Alexanders zu Felix Dudnik entstand im Bochumer Krankenhaus. Seit ein paar Tagen ist er nun in Dortmund: „Ich bin so froh, dass ich bei Ihnen bin“, sagt der junge Ukrainer. In Bochum habe er gebetet, „dass ich hier hin komme“. Auch Alexanders Ergotherapeutin ist ein Glücksfall: Sie spricht neben Deutsch auch Russisch und Ukrainisch.
Die Muskelnsind weg
Der 21-Jährige hofft nun wie auch das medizinische Team auf die Genehmigung, dass sein Aufenthalt verlängert werden kann. Jede Menge Formalitäten müssen dafür geklärt sein – das ist die deutsche Bürokratiefront. Es geht zwar voran bei der Behandlung, aber die Beine des jungen Mannes sind noch spindeldürr. „15 Kilo hat Alexander verloren“, sagt Dr. Andreas Rogozinski, Chefarzt der neurologischen Abteilung der Johanniter Klinik.
Nicht, weil er gehungert habe, sondern weil seine Muskeln weg sind. „Die Gefäßnerven sind zerfetzt“, erklärt der Chefarzt. Und Nerven seien nun einmal wie Stromkabel: „Wenn das Stromkabel weg ist, dann ist der Impuls an die Muskeln weg.“ Sie schrumpfen und irgendwann verkürzen sich die Sehnen, die Gelenke versteifen. Täglich kämpft Alexander nun mit Ergo- und Physiotherapie sowie auf einem speziellen Laufband dagegen an.
Der junge Ukrainer hat an der Militärakademie in Charkiw studiert. Es war sein letztes Jahr. Dann wäre er Offizier gewesen. Die Theorie wurde von der Realität eingeholt, es ging aus dem Hörsaal an die Front, direkt mit Kriegsbeginn am 24. Februar. „In meiner Einheit waren vor allem Westukrainer“, erinnert sich Alexander. „Sie haben gesagt, wir müssen unser Land hier im Osten verteidigen, sonst sind die Russen irgendwann bei uns im Westen.“ Außerdem hätten ein Australier und ein Amerikaner zu seiner Einheit gehört.
Alles ging gut – bis zum frühen Morgen des 8. April. Da trafen ihn die Granatsplitter. Ein Alptraum. Wie geht man mit so einer Erfahrung um? „Am Anfang“, sagt Alexander, „habe ich ständig daran denken müssen. Aber inzwischen ist es okay.“ Er schildert den Vorfall ruhig, sachlich, ohne sichtbare Regung: Es sei kein Problem darüber zu sprechen.
„Schon 2014 hat alles angefangen“
Hat er sich das je vorstellen können, dass Russland einen solchen Angriff startet? Alles sei schon früher losgegangen, 2014 mit der Annexion der Krim – aber in dieser Form? Der junge Mann schüttelt fast unmerklich den Kopf unter der grünen Kappe. Er hat sporadischen Kontakt zu anderen ukrainischen Soldaten, die auch in Deutschland, in Köln versorgt werden. Besuch bekommt er gelegentlich von „Bekannten von Bekannten, die schon lange in Dortmund leben“.
Am 12. Januar 2023 hat Alexander Geburtstag, er wird 22 Jahre alt. Wo wird er dann sein? „Hundertprozent in der Ukraine“, sagt er bestimmt. Ob im Krieg oder in Frieden, das weiß bisher niemand. Alexander würde wohl wieder an die Front gehen. Aber ob die Beine das mitmachen, kann im Moment niemand sagen. Doch es gebe beim Militär schließlich auch viele andere Aufgaben, die er übernehmen könne: „Jeder sollte das machen, was er gut kann.“
Für die Ärzte und Therapeuten der Johanniter Klinik heißt das: Dem jungen Mann wieder auf die Beine zu helfen – in jeder Hinsicht.
Quelle Ruhrnachrichten vom 12.07.2022/ Autorin Britta Linnhoff